Das FilmFestival Cottbus ist eines der weltweit führenden Foren für das mittel-/osteuropäische Kino. Es gibt einen einzigartigen Überblick über das aktuelle Filmschaffen Mittel- und Osteuropas, vom leisen Autorenkino über den Politthriller bis zum knalligen Blockbuster, von der romantischen Komödie über märchenhafte Kinderfilme bis zur intimen Coming-of-Age-Geschichte. 219 Filme aus 48 Produktionsländern werden in diesem Jahr gezeigt, nach nahezu jeder Vorführung gibt es Gespräche mit Regisseur*innen, Produzent*innen und Schauspieler*innen. Viele Filme erleben beim FFC ihre deutsche, internationale oder sogar weltweit erste Aufführung. Eingebettet in das Festival findet mit „connecting cottbus“ einer der ältesten und erfolgreichsten Koproduktionsmärkte Europas statt.
Der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird selbstverständlich auch das 32. FFC prägen. Seit seiner Gründung im Jahr 1991 hat sich das FilmFestival Cottbus als Plattform des Dialogs verstanden und hält auch in Zukunft an dieser Grundeinstellung fest. Nicht zuletzt, um die langjährige Zugehörigkeit zur europäischen Filmfamilie und zur Cottbuser Festivalseele zu unterstreichen, werden in diesem Jahr in fast allen Programmsektionen des Festivals ukrainische Beiträge zu sehen sein. Gleichzeitig werden russische Filme jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Zahlreiche Filmschaffende haben in den vergangenen Monaten Russland aus Protest den Rücken gekehrt oder äußern sich trotz aller Gefahren kritisch im eigenen Land. Auch ihnen gilt es, die Hand zu reichen und eine Stimme zu verleihen.
Die Programmsektion „Polskie Horyzonty“ widmet sich ganz dem aktuellen Spielfilm und blickt dabei besonders auf ländliche Regionen. Was ist Provinz? Zwischen Heile-Welt-Romantik und pointierter Gesellschaftsparabel hat der „Heimatfilm“ von Anfang an seinen Platz im internationalen Kino gefunden. In Polen beschäftigen sich derzeit viele Filme mit den Herausforderungen und Chancen des Landlebens, diskutieren den Widerspruch zwischen Landlust und Provinzfrust – zwischen Selbstbefreiung und Anpassungsdruck, Landschaftsbeschreibung und gesellschaftskritischer Metapher.
Polnische Beiträge im Programm:
Chleb i sól / Bread and Salt
Spielfilm, R: Damian Kocur, PL 2022, 100 min, Wettbewerb Spielfilm / Deutschlandpremiere
Tymek ist zu Besuch in seiner Plattenbau-Heimat und muss feststellen, dass ihn außer der Liebe für das Klavier nicht mehr viel mit seinem Bruder Jacek verbindet. Stylisch komponiert der Film eine Cliquen-Dynamik zwischen Party, Aggression und Gruppenzwang, von der sich Tymek schließlich mitreißen lässt – mit tragischen Folgen. Damian Kocur gelingt ein feinsinniges Spielfilmdebüt über Menschen, die ihrer Identität beraubt wurden und gleichzeitig die anderer nicht akzeptieren können. Die Welt, die Kocur zeigt, ist die Welt seiner eigenen Jugend. „Chleb i sól“ wurde beim Filmfestival in Venedig mit einem Spezialpreis der Sektion „Orrizonti“ ausgezeichnet.
10.11.2022 / 17:15 / Stadthalle
11.11.2022 / 14:45 / Weltspiegel, Saal 2
Głupcy / Fools
Spielfilm, R: Tomasz Wasilewski, PL/DE 2022, 115 min, Wettbewerb Spielfilm / Deutschlandpremiere
Marlena und ihr um einige Jahre jüngerer Partner Tomasz leben in einem einsamen Haus am Meer, glücklich miteinander und dem Leben in ihrer abgeschiedenen Welt. Ihr Alltag wird auf den Kopf gestellt, als Marlena gegen Tomeks Willen beschließt, ihren schwerkranken, bettlägerigen Sohn Mikołaj bei sich aufzunehmen. Nicht nur die aufreibende Pflege wirft bald
schon einen Schatten auf ihre Beziehung – mehr und mehr kommen mit Mikołajs Einzug familiäre Geheimnisse ans Licht, die viele Jahre verborgen waren. Nach „United States of Love“ (Silberner Bär bei der Berlinale 2016) entwickelt Tomasz Wasilewski ein unkonventionelles und kompromissloses Familiendrama über die vielschichtigen Formen von Liebe, frei in seiner Erzählform und mit einer faszinierenden, hochgradig stilisierten Bildgestaltung des renommierten rumänischen Kameramanns Oleg Mutu.
09.11.2022 / 19:00 / Stadthalle
10.11.2022 / 10:00 / Weltspiegel, Saal 2
Kobieta na dachu / Woman on the Roof
Spielfilm, R: Anna Jadowska, PL/FR/SE 2022, 95 min, Wettbewerb Spielfilm
Die 60-jährige Mirka wollte es immer allen recht machen. Doch jetzt reicht das Geld nicht mal mehr, um die Fische im Aquarium zu füttern. Die Ehefrau und Mutter hatte sich immer nach den Wünschen anderer gerichtet – bis eine Verzweiflungstat alles ändert. Anna Jadowska, die 2017 beim FFC mit „Dzikie róże / Wilde Rosen“ fünf Preise gewann, darunter den Hauptpreis, schildert erneut ein Frauenschicksal im heutigen Polen. Der Blick von außen, tradierte Moralvorstellungen und die Erwartungshaltungen ihrer Umgebung bestimmen Mirkas Sicht auf sich selbst in ihrer typisch postsozialistischen Plattenbausiedlung. Ihr Weg zu mehr Selbstverwirklichung ist steinig, doch die konsequente Erzählung aus ihrer Perspektive nimmt das Publikum langsam aber stetig für eine Frau ein, die nicht länger nur Opfer sein will.
11.11.2022 / 16:00 / Stadthalle
12.11.2022 / 14:30 / Weltspiegel, Saal 2
Magdalena
Spielfilm, R: Filip Gieldo, PL 2021, 100 min, Wettbewerb U18 Jugendfilm / Weltpremiere
DJane im Clinch mit der eigenen Vergangenheit: Hin- und hergerissen zwischen ihrer Leidenschaft für Musik und ihrer Verantwortung als junge Mutter kämpft sich Magdalena wortlos durch ihren prekären Alltag. Als sie sich in die Clubbetreiberin Julia verliebt, scheint sie endlich ihr Leben so leben zu können, wie sie will. Doch der Preis dafür ist hoch. Gieldons Coming-of-Age-Drama, das konsequent aus Magdalenas Perspektive gefilmt ist, erzählt berührend intim von einem stetigen Ankämpfen gegen schier unüberwindliche Hindernisse. Sein Debüt ist das eindrucksvolle Porträt einer Getriebenen, die sich um Selbstbestimmung bemüht.
10.11.2022 / 17:00 / Kammerbühne
9-tas žingsnis / The 9th Step
Spielfilm, R: Irma Pužauskaitė, LT/PL 2022, 93 min, Wettbewerb U18 Jugendfilm
In dem aufwühlenden Coming-of-Age-Drama doktert der 40-jährige Linas an seinem Alkoholismus herum, als seine Tochter Eve sein Leben auf den Kopf stellt und ihre Freundin Maya, auf der Suche nach ihrem ersten großen Liebesabenteuer, gleich beiden den Kopf verdreht. Roh und hautnah dabei erzählt Irma Pužauskaitė in ihrem Debütfilm von einem Trio, das sich Problemen stellen muss, die es zu lange verdrängt hat.
11.11.2022 / 19:30 / Kammerbühne
W kręgu / In the Circle
Spielfilm, R: Jan Naszewski, PL 2022, 23 min, Wettbewerb Kurzfilm
In der kurzweiligen Kammerspiel-Komödie treffen sich Frauen zu einem Gesprächskreis, um sich auszutauschen und zu entspannen – mit wenig Erfolg. Satirisch-süffisant hält der Film modernen Weltverbesserungs-Idealen der Hipster den Spiegel vor.
11.11.2022 / 21:30 / Weltspiegel Großer Saal
Kobieta Samotna / A Lonely Woman
Spielfilm, R: Agnieszka Holland, PL 1981, 92 min / Sektion „Frauenrollen im Sozialismus und danach“
Trotz harter Arbeit reicht Irenas Gehalt hinten und vorne nicht – und sie hätte ohnehin keine Zeit, um stundenlang für Lebensmittel anzustehen. Sie möchte ein normales Leben führen,
aber was ist Normalität, wenn das Leben ein ständiger Überlebenskampf ist? Wegen seiner rigorosen Kritik am sozialistischen Regime war dieser Film in Polen bis 1987 verboten. Wie eine klassische Tragödie inszeniert Kult-Regisseurin Agnieszka Holland diese düstere Geschichte und zeigt die Missstände der sozialistischen Gesellschaft, welche die Schwächsten ausgrenzt und so noch mehr Elend verursacht.
10.11.2022 / 12:30 / Stadthalle
Wszystkie nasze strachy / All Our Fears
Spielfilm, R: Łukasz Ronduda/Łukasz Gutt, PL 2021, 94 min / Sektion „Polskie Horyzonty“
Trautes Miteinander in Schieflage: Daniel ist erfolgreich, aber auch hin- und hergerissen zwischen seiner kleinen Dorfgemeinschaft und den städtischen Kunstgalerien, der katholischen Kirche und seiner schwulen Identität. Als sich eine Freundin aus der LGBT-Community wegen homophober Anfeindungen umbringt, tut sich ein Schlund aus Feindseligkeiten auf. Daniel macht es sich zur Lebensaufgabe, seine Gemeinschaft durch ein ultimatives Kunstwerk zu erlösen.
09.11.2022 / 14:00 / Stadthalle
13.11.2022 / 16:00 / Weltspiegel Großer Saal
Bukolika / Bucolic
Dok, R: Karol Pałka, PL 2021, 70 min / Sektion „Polskie Horyzonty“
Außen vor und doch mit sich im Reinen: Die 65-jährige Danusia und ihre 35-jährige Tochter Basia leben abgeschieden auf dem Land in einem heruntergekommenen Haus. Das Wasser kommt aus dem Teich, nebenan stehen ein paar Kühe und Ziegen. Der Weg mit dem uralten Fahrrad zum nächsten Laden ist weit. Pałka schildert in ruhigen Bildern ein Leben in tiefem Gottesglauben an der Armutsgrenze und kontrastiert es mit den sphärischen Drone-Klängen der ukrainischen Neo-Folk-Band Dakha Brakha.
12.11.2022 / 12:30 / Obenkino
Silent Love
Dok, R: Marek Kozakiewicz, PL/DE 2021, 80 min / Sektion „Polskie Horyzonty“
Wer darf im ländlichen Polen eine Familie gründen? Dieser Dokumentarfilm zeigt den Kampf von Agnieszka um das Sorgerecht für ihren Bruder Milosz nach dem Tod der Mutter. Dafür muss Agnieszka viele Details aus ihrem Privatleben preisgeben – doch ihre Liebe zu ihrer Partnerin Majka hält sie geheim. „Silent Love“ gewann im Oktober 2022 bei DOK Leipzig den MDR-Preis für den besten mittel-/osteuropäischen Film.
12.11.2022 / 14:30 / Obenkino
13.11.2022 / 12:00 / Weltspiegel, Saal 2
Sonata
Spielfilm, R: Bartosz Blaschke, PL 2021, 118 min / Sektion „Polskie Horyzonty“
Grzegorz wird aus Schule und Gesellschaft ausgegrenzt, bis seine neue Betreuerin feststellt, dass er nicht an Autismus, sondern an einer Hörschwäche leidet. Ein neues Hörgerät leistet Wunder und der 14-Jährige entwickelt sich zum Ausnahme-Pianisten. Die sensibel inszenierte und faszinierend vielseitig gespielte Erfolgsgeschichte nach einer wahren Begebenheit spielt vor der faszinierenden Gebirgskulisse der Vorkapaten.
13.11.2022 / 13:30 / Weltspiegel Großer Saal
Piosenki o miłości / Songs About Love
Spielfilm, R: Tomasz Habowski, PL 2021, 90 min / Sektion „Polskie Horyzonty“
Alicja schlägt sich als Kellnerin durch. Der ambitionierte Musiker Robert, Sohn eines berühmten Schauspielers, kriegt nichts auf die Reihe – bis er Alicja singen hört und sich von ihr zu Songs inspirieren lässt, die Erfolg haben könnten. Nur sind es leider nicht seine. Im poetischen Schwarz-Weiß-Kammerspiel zwischen amour fatale und nouvelle vague glänzt Justyna Świeş, Sängerin der polnischen Elektro-Indie-Band The Dumplings, in der Rolle der Alicja.
09.11.2022 / 22:00 / Kammerbühne
12.11.2022 / 19:00 / Obenkino
Tonia
Spielfilm, R: Marcin Bortkiewicz, PL 2021, 81 min / Sektion „Polskie Horyzonty“
Tonias Vater liebt seine Tochter abgöttisch, aber auch das Bier – und soll, wenn es nach der Großmutter geht, für drei Monate aus seiner polnischen Kleinstadt raus, auf eine Baustelle nach Italien. Schon macht der Vater mit schickem Anzug und reichlich Haargel auf mediterran. Doch die 11-jährige Tonia will ihren Vater behalten. Die Familiensaga zwischen Comedy und Poesie würzt die Spurensuche nach düsteren Familiengeheimnissen mit phantasievollen Slapstick-Einlagen.
09.11.2022 / 17:30 / Weltspiegel, Großer Saal
11.11.2022 / 16:45 / Obenkino
Vor Zeit / Time Before Land / Przedczas
Dok, R: Juliane Henrich, DE 2021, 79 min / Sektion „Polskie Horyzonty“
Regisseurin Juliane Henrich begibt sich qua Alter Ego auf familiäre Spurensuche nach Schlesien – einer Region, die seit 1945 zu Polen gehört. Doch anstatt auf eindeutige Zeugnisse über ihren Großvater zu stoßen, erfährt sie einiges über die bewegte Historie einer einst multikulturellen Gegend, trifft auf erzählfreudige Einheimische sowie auf Spuren von Dinosauriern.
09.11.2022 / 10:30 / Weltspiegel, Großer Saal
F*cking Bornholm
Spielfilm, R: Anna Kazejak, PL 2022, 100 min / Sektion „Spectrum“
Zwei Kleinfamilien im Campingurlaub: Zwischen schönem Schein und beginnender Midlife-Crisis kommt es immer wieder zu kleinen Sticheleien und scheitert das Miteinander, weil alle immer wieder aneinander vorbeireden. Der Film ist ein mit bösartigem Humor durchsetztes Psychodrama über Beziehungen im Stresstest und die innere Sprachlosigkeit zwischen Männern und Frauen.
12.11.2022 / 14:30 / Kammerbühne
Dalej jest dzień / Beyond Is The Day
Spielfilm, R: Damian Kocur, PL 2020, 25 min / Sektion „MIOB“
Irgendwo in Europa, irgendwo in Polen arbeitet Paweł auf einer kleinen Flussfähre in der Nähe seines Dorfes. Eines Tages bemerkt er Mohammad, der den Fluss schwimmend überquert. Der Einwanderer aus Palästina ist endlich jemand, mit dem Paweł reden kann.
10.11.2022 / 17:00 / Kammerbühne
Info: www.filmfestivalcottbus.de
Ort: verschiedene Orte in Cottbus
alle Texte und Fotos © FilmFestival Cottbus (ggf. gekürzt)