Das Programm ist der Auftakt einer neuen Reihe im Festivalprogramm, die unkonventionelle Filmfestivals und -initativen aus Polen vorstellt. In diesem Jahr haben die Kuratorinnen von HER Docs speziell für das Berliner Publikum ein Programm zusammengestellt. Seit 2019 bemüht sich die Stiftung HER Docs darum, das Filmschaffen von Frauen bekannt zu machen sowie ihre Stellung in den Bereichen Kultur, Kunst und Dokumentarfilm hervorzuheben bzw. zu stärken. Eines der Hauptziele der Stiftung ist die Bildung mithilfe von Dokumentarfilmen mit besonderem Augenmerk auf das junge Publikum. Zu den wichtigsten Initiativen der Stiftung gehört das HER Docs Film Festival – ein internationales Festival, das in Warschau die ganze Bandbreite weiblichen Schaffens im Dokumentarfilm präsentiert. Dazu gesellt sich das HER Docs Forum – ein Event, welches sich Frauen widmet, die sich professionell mit Dokumentarfilmen beschäftigen. Die Stiftung ist das ganze Jahr über aktiv und organisiert Screenings auf Leinwänden und online, Diskussionsrunden, Begegnungen mit Filmschaffenden sowie Workshops. Darüber hinaus macht sie das Schaffen polnischer Dokumentarfilmerinnen im Ausland bekannt.

Kuratorinnen: Weronika Adamowska, Marta Golba-Naumann & Kasia Świątoniowska

13.09. / 18:00 / Wolf Kino / anschl. Gespräch in englischer Sprache mit Sonja Eismann (Missy Magazine) & Anna Krenz (Dziewuchy Berlin) / Moderation: Aleksandra Nowak (Kulturwissenschaftlerin, Publizistin & Aktivistin)

 


 

Good Girls No More

So sehr die vergangene Dekade durch einen politischen Rechtsruck geprägt war, so sehr kam es auf gesellschaftlicher Ebene zu einem Erstarken feministischer Bewegungen – einer Blütezeit des Aufruhrs, des gemeinsamen körperlichen Erlebens vom Gemeinschaft beim Gang auf die Straße und der Demonstration von Widerstand. Es war eine Zeit, in der neue Fragen zum Verständnis von Geschlechtlichkeit gestellt wurden und in der jahrzehntelang aufgebaute Tabus dekonstruiert wurden; eine Zeit, in der eine neue Sprache gesucht wurde, welche den Rahmen von Stereotypen sprengen, binäre Konstruktionen auflösen und auch Personen, Gruppen und Themen berücksichtigen kann, die bislang in den Bereich der sozialen Unsichtbarkeit gedrängt worden waren.

Die im Programm „Good Girls No More“ versammelten Kurzfilme entstanden im Laufe der vergangenen Dekaden und reagieren zum Teil auf diese Veränderungen, treten mit ihnen aufmerksam und sensibel in Kontakt, sagen sie teilweise voraus, bilden das Präludium eines anschwellenden Aufbegehrens gegen die engen, erdrückenden gesellschaftlichen Erwartungen und entwerfen eine Genealogie des Widerstands.

Ja i moja gruba dupa / My Fat Arse and I © KFF Sales & Promotion

Der Aufruhr hat im Programm unzählige Namen und Gesichter. Er kann sich auf der Straße manifestieren („Polish Women on Strike“ von Kasia Prus), aber ebenso im Verhältnis zum eigenen Körper oder im Kampf um eine würdige Comic-Superheldin – einem Kampf, in dem der Lorbeerkranz die Akzeptanz ist („My Fat Arse and I“ von Yelyzaveta Pysmak).

Der Widerstand kann auch in fantastischen Spinnereien erwachen, beispielsweise in solchen, in denen mit – ungeniert von Film-Rächerinnen inspirierten – Ausdrucksmitteln der Weg zur Bändigung der Freiheit geebnet wird, wie in „Blood and Flowers“ von Sabina Gryczan. Oder in denen, dank derer man die festgeschriebene Geschichte neu lesen kann – wie in „Grandmamauntsistercat“ von Zuza Banasińska, wo propagandistische Archivmaterialien aus dem kommunistischen Polen so umgestaltet werden, dass man sich mit ihnen in eine neue Realität träumen kann – wie verzaubert von der slawischen Hexengestalt Baba Jaga, die hier nicht mehr eine Bündelung von Ängsten des Patriarchats verkörpert, sondern mit der Macht einer prähistorischen Göttin etablierte binäre Denk- und Sichtweisen hinterfragt.

Ebenfalls auf Archivmaterial – diesmal Fotografien aus der Vorkriegspresse und Kunst-Publikationen der Sechzigerjahre – greift Agnieszka Polska („Correction Exercises“) zurück. Sie versetzt in der Zeit stehen gebliebene Körperbilder in Bewegung und lässt sie völlig neue Geschichten erzählen.

Im Übrigen ist das Programm voll von Filmen, in denen die Körperlichkeit im Mittelpunkt steht und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Das kann eine Berührung sein, welche der Züchtigung des Körpers dient, aber auch eine, die sinnlich und affirmativ ist. Oder eine Berührung, die typisch für Handarbeit ohne jeglichen erotischen Kontext ist – obwohl sie der Herstellung erotischer Spielzeuge dient („The Vibrant Village“ von Weronika Jurkiewicz). Letztendlich kann es auch eine hartnäckige, grenzüberschreitende Berührung („You Are Overreacting“ von Karina Paciorkowska) sein, welche die Erfahrung verschiedener Formen von Gewalt im öffentlichen Raum vermittelt. Sexistische Kommentare ergießen sich aus Bildschirmen und scheinen im urbanen Raum auf, erzeugen einen beklemmenden Eindruck und wecken Zorn, gemischt mit dem Gefühl von Machtlosigkeit.

Beengend kann auch das magisch gewebte Netz familiärer Erwartungen sein. In „Dress Me“ beschließt Małgorzata Goliszewska, jede einzelne dieser Erwartungen wörtlich zu nehmen und sich selbst mit den Augen ihrer Umgebung zu betrachten wie in Spiegeln. Getrieben von kritischen Kommentaren über ihr Aussehen entschließt sie sich zu einem kreativen Experiment – sie durchläuft die von ihr erwarteten Metamorphosen und legt die von ihrer Mutter, Großmutter und Freundin ausgesuchten Kleider an. Damit spiegelt sie deren Vorstellungen von Weiblichkeit.

Weiblichkeit muss jedoch nicht zwingend ein von oben verordneter Katalog aus Geboten und Verboten sein – ein von jemand anderem ausgewähltes Kleid, das zu eng und verführerisch ist, das wir uns mit Mühe überstreifen und in dem Bewusstsein tragen, dass es unsere Bewegungsfreiheit einschränkt. Das Programm „Good Girls No More“ zeigt, dass es höchste Zeit ist, in ein Kleid aus eigenen Vorstellungen zu schlüpfen. [Aleksandra Nowak, Übs: Rainer Mende]

Auf die Vorführung folgt eine Diskussion mit Expertinnen für Aktivismus, Wissenschaft und Kunst, in welcher die in den Filmen angesprochenen Themen vertieft werden und die polnische Perspektive durch internationale Kontexte erweitert wird.

Grandmamauntsistercat © Zuza Banasińska

 


 

Ćwiczenia korekcyjne / Correction Exercises
Anima, R: Agnieszka Polska, PL 2008, 8 min, OmeU

Grandmamauntsistercat
Experimentalfilm, R: Zuza Banasińska, PL/NL 2024, 23 min, OmeU

Ja i moja gruba dupa / My Fat Arse and I
Anima, R: Yelyzaveta Pysmak, PL 2020, 10 min, OmeU

Nie masz dystansu / You Are Overreacting
Animadok, R: Karina Paciorkowska, PL 2018, 4 min, OmeU

Strajk polskich kobiet / Polish Women on Strike
Dok, R: Kasia Prus, PL 2016, 3 min, OmeU

Krew i kwiaty / Blood and Flowers
Anima, R: Sabina Gryczan, PL 2023, 18 min, OmeU

The Vibrant Village
Dok, R: Weronika Jurkiewicz, PL/HU 2019, 7 min, OmeU

Ubierz mnie / Dress Me
Dok, R: Małgorzata Goliszewska, PL 2011, 16 min, OmeU

Ćwiczenia korekcyjne / Correction Exercises © Agnieszka Polska

 


Titelfoto: The Vibrant Village © Weronika Jurkiewicz