Die Tragödie, die sich vor 50 Jahren in Danzig abgespielt hat, ist Teil der Schicksalsgemeinschaft des von den Kommunisten unterdrückten Mitteleuropas.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in Danzig, der Stadt, in der er begonnen hatte, wieder Schüsse abgefeuert und Menschen getötet. Diesmal wurden die Waffen von der kommunistischen Armee und der Bürgermiliz eingesetzt, um die Proteste der Arbeiter gegen die im Dezember 1970 kurz vor Weihnachten angekündigte Preiserhöhung niederzuschlagen. Neben Danzig erfasste der Aufstand auch andere Hafenstädte: Stettin, Gdingen und Elbląg, es gab mehrere Dutzend Tote und über tausend Verwundete. Das Ausmaß der Ausschreitungen zwang Moskau dazu, die kommunistische Mannschaft, die Polen seit 1956 regierte, auszutauschen.
Der italienische Schriftsteller und Sozialist Ignazio Silone, der viele Jahre lang vom Kommunismus verblendet war, schrieb: „Ihr Kampf wird sich nicht als vergeblich erweisen, vieles deutet darauf hin, dass er sogar in Rostock und Königsberg spürbar ist“. Wir werden nicht ermessen können, wie stark die Auswirkungen des Dezember 1970 auf die Arbeiter in den Nachbarländern waren, aber jeder Widerstand hat seine Spuren hinterlassen. Der zunächst winzige Riss im Sowjetimperium wurde zu einer immer größeren Bruchstelle, wenn sie auch nicht sofort erkennbar war.
Es gibt viele ergreifende Zeugnisse dafür, dass es ein Bewusstsein der Schicksalsgemeinschaft der Völker hinter dem Eisernen Vorhang gab. Im Herbst 1956 wurden die ungarischen Träume von der Unabhängigkeit durch die demonstrierten Freiheitsbestrebungen in Polen geweckt. Als diese Hoffnungen von sowjetischen Panzern in Budapest zerschlagen wurden, floss eine Welle von Hilfe, Medikamenten, Blut, aufmunternden Worten und Unterstützung vom Land an der Weichsel.
Bis heute bewegt die Demonstration von acht russischen Dissidenten, die im August 1968 allein auf den Roten Platz in Moskau gingen, das Gewissen. Sie wurden sofort verhaftet, vor Gericht gestellt und verbrachten die folgenden Jahre hinter Gittern und Drähten in Gulags. Sie protestierten gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings, des Unabhängigkeitskampfes der Tschechen und Slowaken, der von fast einer Viertelmillion sowjetischer Soldaten mit Unterstützung von Truppen aus der Volksrepublik Polen, der DDR, Ungarn und Bulgarien, niedergeschlagen wurde. Die russische Dissidentin Natalja Gorbanewskaja hielt damals ein Transparent mit der Losung „Für unsere und eure Freiheit“ in den Händen. Dieser Wahlspruch war in Polen das erste Mal während des Novemberaufstandes 1830-1831 in polnischer und russischer Sprache auf Fahnen zu sehen gewesen. Später begleitete er viele Male das Ringen Polens um Unabhängigkeit, bis er schließlich Ende des 20. Jahrhunderts mit neuem Inhalt gefüllt wurde.
Die Aktion einer Handvoll widerspenstiger Russen in einem Meer von fast 250 Millionen gleichgültigen und feindseligen Sowjetbürgern hatte nicht weniger Gewicht als der Streik tausender russischer Arbeiter in Nowotscherkassk im Juni 1962, der mit Maschinengewehrsalven endete. Denn sie legte den Weg fest, den sich die in jedem Volk des Sowjetimperiums wenigen Aufmüpfigen zu beschreiten entschlossen. Sie griffen dabei nach „dem einfachsten, am leichtesten zugänglichen Schlüssel zu unserer Befreiung: SICH NICHT AN EINER LÜGE ZU BETEILIGEN! Auch wenn die Lüge alles umfassen sollte, auch wenn sie von allem Besitz ergreifen sollte, so wollen wie wir auf dem Minimum beharren: die Lüge möge NICHT MIT MEINER HILFE herrschen!“ Dies forderte der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, Autor des Buches „Archipel Gulag“.
Der russische Dissident Wladimir Bukowski, der 12 Jahre in Gefängnissen, Gulags und psychiatrischen Anstalten verbrachte, ging sein Leben lang einen „für den Körper nicht leichten, aber für die Seele einzigen“ Weg. Er erklärte seine Wahl folgendermaßen: „Warum gerade ich? – fragt sich täglich jeder in der Menge. Allein kann ich nichts bewirken. Und so gehen alle verloren. Wenn nicht ich, wer dann? – fragt sich ein Mensch, der mit dem Rücken zur Wand steht. Und er rettet alle. Auf diese Weise beginnt der Mensch seine Burg zu bauen“.
Und diese Burg haben in Russland in der Ukraine und in Litauen die Gründer der Helsinki-Gruppen gebaut, in der Tschechoslowakei die Gründer der Charta 77, in Polen die Mitglieder des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, der Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte, der Freien Gewerkschaften, des Studentenkomitees der Solidarność, der Komitees der Selbstverteidigung der Bauern, die Herausgeber der Samisdate „Chroniken der Aktuellen Ereignisse“, „Chroniken der Katholischen Kirche in Litauen“ und „Ukrainische Nachrichten“ sowie die in Polen zahlreichen unabhängigen Verlage, mit dem Unabhängigen Verlagshaus an der Spitze, die Lügen durch freie, wahre Berichte widerlegten.
Wie stark die Kraft der Wahrheit ist, erfuhren Millionen versammelter Personen während der Pilgerreise von Johannes Paul II. in sein Heimatland im Juni 1979, als er an das gemeinsame, fundamentale, Jahrhunderte alte Erbe des Christentums des „östlichen Lungenflügels Europas“ erinnerte: Kroatiens, Sloweniens, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Bulgariens, Ungarns, Russlands und Litauens.
Einige Monate später blickten alle nach Polen, wo im Sommer 1980 Danzig und Stettin – die Städte der Streiks 10 Jahre zuvor – zu führenden Zentren der entstehenden Solidarność wurden. Eine der ersten dort gestellten Forderungen war die Errichtung von Denkmälern zum Gedenken an die im Dezember 1970 Gefallenen. Drei gewaltige, über 40 Meter hohe Danziger Kreuze mit Ankern wurden zum 10. Jahrestag dieses Aufstandes errichtet und sind bis heute eines der Symbole dieser Stadt.
Die Worte des im Dezember 1970 gesungenen Lieds wurden wahr: „Weine nicht Mutter, es ist nicht umsonst / Über der Werft weht eine Fahne mit schwarzer Schleife / Für Brot und Freiheit, und ein neues Polen / ist Janek Wiśniewski gefallen“. Janek Wiśniewski hieß eigentlich Zbigniew Godlewski und war ein 18-jähriger Student, der in Gdingen erschossen worden war. Die Szenen, als sein Leichnam auf einer Tür an der Spitze eines Marsches mit blutbefleckten weiß-roten Fahnen getragen wurde, wurden zu einem Symbol des Dezember 1970.
Das damals entstehende „neue Polen“ brachte Hoffnung für andere von Moskau versklavte Völker. Noch während der Streiks im August 1980 richtete Aleksander Solschenizyn folgende Worte an die polnischen Arbeiter: „Ich bewundere euren Geist und eure Würde. Ihr seid ein großes Vorbild für alle von den Kommunisten unterdrückten Völker“.
Die Solidarność war sich dessen bewusst, dass sie der krönende Abschluss des Widerstandes und des Kampfes gegen den Kommunismus war, der über mehrere Jahrzehnte nicht nur in Polen, sondern auch im gesamten Sowjetblock geführt wurde und noch immer geführt wird. So wurde im Sommer 1981 auf der Versammlung der Solidarność, die fast 10 Millionen Mitglieder zählte, ein Appell an die arbeitenden Menschen Osteuropas gerichtet, in dem versichert wurde, dass „wir unsere Schicksalsgemeinschaft stark fühlen“. Dieser Appell löste eine hysterische Reaktion Moskaus aus, war aber eine moralische Unterstützung für all jene, die seit Jahren die Botschaft der Freiheit unerschütterlich kündeten.
In diesem Geist einer Schicksalsgemeinschaft waren nach der Einführung des Kriegsrechts in Polen zahlreiche Stimmen der Ermutigung und Unterstützung zu hören. Russische Schriftsteller, darunter Wladimir Bukowski, Wladimir Maximow, Wiktor Nekrassow, Natalja Gorbanewskaja, griffen wieder einmal „mit Stolz“ auf „den Wahlspruch zurück, der hundertfünfzig Jahre zuvor, während des polnischen Aufstandes von 1830, geboren wurde: »Für unsere und eure Freiheit! «. Es lebe ein freies, unabhängiges Polen! Es lebe die Solidarność!“ Auch Vertreter anderer Nationen des Sowjetimperiums bekundeten in ähnlichem Ton ihre Solidarität: Tschechen und Slowaken, Ungarn, Rumänen, Litauer, Letten, Esten, Ukrainer und Weißrussen…
Besonders bewegend klangen die Worte des inhaftierten ukrainischen Dissidenten Wassyl Stus, der 1985 in einem Gulag in Perm zu Tode gepeinigt wurde. „Wie erfreulich ist der polnische Mangel an Demut gegenüber dem sowjetischen Despotismus (…). Polen ist ein Vorbild für die Ukraine (…). Polen eröffnet in der totalitären Welt eine neue Ära und bereitet ihren Zusammenbruch vor. Ich wünsche den polnischen Kämpfern alles Gute und hoffe, dass das Polizeiregime am
13. Dezember die heilige Flamme der Freiheit nicht ersticken wird“… die mit immer stärkerem Feuer brannte und bald Millionen von Menschen im Sowjetreich die Freiheit bringen sollte.
Dieser Text erscheint gleichzeitig in der polnischen Monatsschrift „Wszystko Co Najważniejsze“ im Rahmen eines gemeinsam mit dem Institut für Nationales Gedenken umgesetzten Projekts.