16.12.2020 Aktuelles

„Die Länder Mitteleuropas verbinden gemeinsame Erfahrungen“

Wir empfehlen Ihnen den Artikel des französischen Soziologen, Prof. Michel Wieviorka, über die kommunistischen Erfahrungen in den mittel- und osteuropäischen Ländern.

Es muss noch viel Zeit vergehen, bis die aus dem Eisernen Vorhang resultierenden Unterschiede verblassen. In diesem Sinne kann man nach wie vor behaupten, dass Europa weiterhin in zwei Blöcke geteilt ist.

Zu Beginn der 80er Jahre hatte der Kommunismus als Ideologie keine Macht mehr über die Gesellschaft, seine Unfähigkeit zu regieren wurde immer größer. Das war besonders in der Wirtschaft sichtbar, wo die Volksdemokratien bittere Niederlagen einstecken mussten. Die aufeinanderfolgenden Staatschefs der kommunistischen Länder, die manchmal ein gewisses Maß an Autonomie genossen (wie Ungarn unter Kádár in den 1960er und 1970er Jahren), waren von Moskau abhängig, welches sie nicht nur legitimierte, sondern auch ihre Legalität garantierte. Doch die Menschen in Mitteleuropa sahen das anders und begannen bereits in den 1980er Jahren diese Abhängigkeit immer mutiger in Frage zu stellen.

In Polen war das Festhalten an den Werten, in denen nationale, patriotische und christliche Ideen zum Ausdruck kamen, seit jeher eine wichtige Quelle des Widerstands. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade die Polen als erste in der Lage waren, der totalitären Macht nicht nur entgegenzutreten, sondern auch ihren Zusammenbruch herbeizuführen. In seinem Buch Die Kirche, die Linke, der Dialog aus dem Jahr 1977 hat Adam Michnik als einer der ersten bemerkt, dass nur ein gemeinsames Vorgehen der oft als reaktionär und der Obrigkeit gegenüber als kompromisslos wahrgenommenen Kirche mit der Linken, die bis dahin der Kirche gegenüber feindlich eingestellt war, das kommunistische Regime wirksam stürzen kann.

Es ist kein Zufall, dass sich die Freiheitsbewegung in Polen so stark entwickelt hat. Das kommunistische System war hier nämlich am schwächsten verwurzelt, und die Geburt der Solidarność im Jahr 1980 war das Ergebnis des Zusammenschlusses von drei Kräften: der gesellschaftlichen, genauer gesagt jener der Arbeiter (Streiks der Werftarbeiter), der national-katholischen, die durch die Wahl Karol Wojtyłas zum Papst im Jahr 1978 gestärkt wurde und der demokratischen, dank der Beteiligung vieler Intellektueller.

Und obwohl in anderen Ländern der Kommunismus vielleicht widerstandsfähiger war und ihre Regierungen die gesellschaftspolitischen Prozesse effektiver kontrollierten, brach dieses System 1989 trotz der Unterschiede in fast allen Ländern Mitteleuropas zusammen. Das lag daran, dass die UdSSR nicht mehr in der Lage war, die Situation in ihrem Einflussbereich zu kontrollieren. Man kann das Ende des „realen“ Kommunismus in Mitteleuropa und den baltischen Staaten nicht verstehen, ohne die Machtverteilung innerhalb der Moskauer Zentrale selbst zu berücksichtigen.

Ein spektakuläres Signal für den Verlust der Fähigkeit der UdSSR, die Situation zu kontrollieren und angemessen auf Krisen zu reagieren, war der Umgang mit der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. Die Sowjets lieferten damals den Beweis für eine unglaubliche Ineffizienz bei der Beherrschung einer Realität, die sie selbst geschaffen hatten. Die Katastrophe zeigte auch, dass das Ende des Systems aus seiner Mitte heraus geschehen, und nicht nur, oder hauptsächlich, durch äußere Faktoren verursacht werden kann. Obwohl diese Faktoren natürlich möglicherweise auch ihren Teil dazu beigetragen haben. Wenn nun das System nicht in der Lage war, eine solche Tragödie zu verhindern und sich ihr dann zu stellen, bedeutete dies, dass die Machthaber ihre Fähigkeit verloren hatten, die eigene Gesellschaft zu kontrollieren. Gorbatschow hat dies verstanden und so wurde die Idee einer Politik der Glasnost geboren. Die Ereignisse des Jahres 1989 haben dies nur bestätigt.

Die Transformation verlief nicht überall im gleichen Tempo und auch nicht sofort in allen Ländern. Der Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 hat nicht in allen neu entstandenen Ländern demokratische Prozesse ausgelöst. Die Situation in der Ukraine und insbesondere in Weißrussland ist nach wie vor besorgniserregend. Erst in diesem Jahr versucht dieses Land zum ersten Mal den Weg der Demokratisierung zu beschreiten. Andere Länder, wie Albanien oder Jugoslawien, waren zwar formal kommunistisch, aber der Weg ihrer Transformation verlief anders als in den mitteleuropäischen Ländern. Und das Ende Jugoslawiens war äußerst turbulent.

Die Unterschiede resultierten auch aus der Stärke des lokalen Kommunismus. Dort, wo dieses System als feindlich und von außen aufoktroyiert empfunden wurde – in Polen, der Tschechoslowakei, der DDR, Ungarn – verlief die Transformation sehr rasch. Nationale Identität, Ablehnung des Systems durch die Bevölkerung, demokratische Bestrebungen waren dort stark genug, um die Abhängigkeit so schnell, wie es die Umstände zuließen, abzuschütteln. Jugoslawien und Albanien wählten einen anderen Weg. Zu Zeiten der Sowjetunion genoss Jugoslawien nämlich eine Art Autonomie von Moskau. Albanien hingegen hatte eine Ideologie und ein Entwicklungsmodell angenommen, die dem chinesischen näher standen als dem sowjetischen. Diese Unterschiede erwiesen sich in dem Augenblick als entscheidend, in welchem in diesem Teil Europas tiefgreifende demokratische Veränderungen begannen.

Die Unterschiede zwischen den mittel- und westeuropäischen Ländern sind immer noch sichtbar. Erstere haben z.B. nicht mit Problemen aus ihrer kolonialen Vergangenheit zu kämpfen. Das gilt aber auch für solche Bereiche wie Wirtschaft und Politik, wo die Unterschiede nur allzu offensichtlich sind. Die Länder Mittel- und Osteuropas pflegten nach dem Krieg fast 50 Jahre lang eine auf zentraler Planung basierende Wirtschaft. Die Änderung des Wirtschaftsmodells nach 1989 musste mit ernsten sozialen und politischen Spannungen enden, was bis heute etwa in der Gestaltung der politischen Bühne dieser Länder sichtbar ist. Es muss noch viel Zeit vergehen, bis diese Unterschiede verblassen. In diesem Sinne  kann man sagen, dass Europa nach wie vor in zwei Blöcke geteilt ist.

Dieser Text erscheint gleichzeitig in der polnischen Monatsschrift „Wszystko Co Najważniejsze“ im Rahmen eines gemeinsam mit dem Institut für Nationales Gedenken umgesetzten Projekts.


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