4.05.2021 Aktuelles, Andere

Polnische Tradition der Freiheit

Anlässlich des 230. Jahrestages der Verfassung vom 3. Mai empfehlen wir Ihnen den Artikel vom Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Soziologen und politischen Philosophen, Prof. Zdzisław Krasnodębski.

Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 ist als das zweite – nach dem amerikanischen – niedergeschriebene Grundgesetz und als ein großer Freiheitsakt des ausgehenden 18. Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen. Sie ordnete die Grundsätze des Staatswesens neu und stellte dabei fest, dass „jede Gewalt in der menschlichen Gesellschaft dem Willen der Nation entspringt“. Die Verfassung verkündete gleiche Rechte für alle Bürger, auch wenn sie noch nicht alle Einwohner Polens zu Staatsbürgern machte, und blieb zurückhaltend in der Frage der Umgestaltung der sozialen Ständeordnung, was im Zeitalter der Revolution, als bald versucht wurde, die Gleichheit auch mittels Guillotine einzuführen, als vorteilhaft galt. Sie garantierte bürgerliche Freiheiten: „Daher verehren, verbürgen und bestätigen wir die persönliche Sicherheit und alles irgend Jemandem rechtmäßig zukommende Eigenthum, als das wahrhafte Band der Gesellschaft, als den Augapfel der bürgerlichen Freiheit, und wollen sie auch als solche für die künftigen Zeiten verehrt, verwahrt und unverletzt erhalten haben.“

Im Gegensatz zur amerikanischen Verfassung war sie allerdings kein Staatsgründungsakt, in dem eine Nation in statu nascendi sich selbst Grundrechte verlieh. Ein derartiger Gründungsakt war im Falle Polens die Lubliner Union von 1569. Sie war jene, die als erste polnische Verfassung angesehen werden kann, denn mit ihr wurde eine neue politische Einheit, die res publica, die Rzeczpospolita“ geschaffen und es wurden die Regeln der Ausübung der politischen Herrschaft festgelegt. Jedoch bedeutete auch dieser Akt lediglich den Abschluss eines langen Weges zum Zusammenschluss des Königreichs Polen und des Großfürstentums Litauen.

Im Gegensatz zu anderen Ländern Europas verwandelte sich Polen nicht von einer ständischen in eine absolute Monarchie, sondern zu einer Rzeczpospolita, einem gemischten Staatsystem aus einer Wahlmonarchie und einer Republik, wo etwa zehn Prozent der Bevölkerung berechtigt waren, den König und ihre Vertreter zum Sejm (Reichstag) und zu den Sejmiki (Landtage) zu wählen.

Der Begriff der Freiheit, der in dieser stark ausgedehnten Rzeczpospolita beider Nationen, wie sie genannt wurde, vorherrschte, ähnelte jenem, den die Ideenhistoriker in den italienischen Stadtrepubliken geortet haben. Die Bürger dieses polnisch-litauischen Staates verglichen ihn gerne mit der Republik der alten Römer. Der Staat war nach ihrem Verständnis kein „Leviathan“, d. h. kein über die politische Nation erhobenes Gebilde, sondern eine „gemeinsame Angelegenheit“, die auf einem gemeinsamen Handeln fußte. Die Freiheit wurde nicht nur als Freiheit des Einzelnen verstanden, sondern auch als die Möglichkeit, gemeinsam über Gesetze zu entscheiden. In Polen gab es keine Inquisition, keine Verfolgung von Andersgläubigen – erst als Reaktion auf den verheerenden Überfall durch das protestantische Schweden 1655 wurde die Toleranz allmählich eingeschränkt. Die Bürger der Rzeczpospolita waren – und das kann man ohne Übertreibung sagen – die freiesten Menschen in Europa. Und sie hielten sich auch dafür. Aus ihrer Sicht waren absolute Monarchien keine freien Länder, sondern abschreckende Beispiele für die Versklavung, wo keine Meinungsfreiheit herrschte, wo ein Angehöriger des Adelsstandes ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis geworfen werden konnte und sich die Regierenden in wirtschaftliche Dinge einmischten.

Für die intellektuellen Größen Europas des 18. Jahrhunderts wie Diderot oder Voltaire, für die Verehrer aufgeklärter Despoten, wie Katharina II. oder Friedrich der Große, war diese polnische Freiheit ein Exzess, etwas, was der Vernunft zuwiderlief. Auch Kant klagte, Polen sei ein Land, wo jeder ein Herr und keiner ein Untertan sein wolle. Gleichzeitig wurde den Polen vorgehalten, dass diese Freiheit nur für einen Stand gelte, und zwar für den Adel.

Das polnische Experiment mit der Freiheit wurde tatsächlich immer riskanter und bedrohte schließlich den Fortbestand des Staates. Dieses politische System verlangte den Staatsbürgern viel moralische Stärke ab, damit die Freiheit nicht in Willkür und Anarchie ausartete. Die Verfassung vom 3. Mai war ein Versuch, das Staatsschiff wieder steuerbar zu machen und sie sollte zugleich den Staat vor einer Invasion von außen wie auch vor einem inneren Zerfall schützen. Sie schränkte die Freiheit ein, um sie zu retten: Sie führte die Erbmonarchie ein, entzog dem besitzlosen Adel seine politischen Rechte und weitete die Rechte der bürgerlichen Einwohner Polens aus.

Jene, die sich gegen die Verfassung stellten und Zarin Katharina II. um ein Eingreifen ersuchten, beriefen sich auf die „Kardinalrechte“ und althergebrachte Freiheiten. Aus Furcht vor einem angeblichen inneren Despotismus wandten sie sich an die größte absolute Herrscherin Europas. Fremde Heere – das preußische und das russische – stellten bereitwillig „die Ordnung“ und die „Rechtsstaatlichkeit“ wieder her und zerstörten diesen einzigartigen Raum der Freiheit.

Hätte die Rzeczpospolita überlebt, wäre die Geschichte Europas anders verlaufen: Die Traditionen des klassischen Republikanismus wären nicht so leicht in Vergessenheit geraten, der russische Despotismus wäre außerhalb der Grenzen Europas geblieben, und der preußische Militarismus wäre gebändigt geworden. Nach dem Verlust der Unabhängigkeit und im Bewusstsein darüber, dass ohne sie auch keine vollständige persönliche Freiheit möglich ist, kämpften die Polen das ganze 19. Jahrhundert für deren Wiedererlangung – angefangen mit dem Kościuszko-Aufstand 1794. Dieses polnische Bekenntnis zur Freiheit wurde auch im 20. Jahrhundert sichtbar: 1920 bei der Abwehr des Vormarsches der Bolschewiki nach Europa, 1939 im bewaffneten Kampf gegen das Dritte Reich, 1980 bei der Entstehung der „Solidarność“ und 1989 bei der Überwindung des Kommunismus.

Der Text wurde zeitgleich mit der polnischen Monatszeitschrift „Wszystko co Najważniejsze“ in Zusammenarbeit mit dem polnischen Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) und der KGHM veröffentlicht.

 


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