Programm:

Cicha ziemia / Stilles Land
Filip
Fucking Bornholm
IO / EO
Kobieta na dachu / Women On The Roof
Słoń / Elefant
Pisklaki / Fledglings

 


 

Cicha ziemia / Stilles Land

PL/ITA/CZ 2021
R: Aga Woszczyńska
113 min, OmdU
B: Aga Woszczyńska & Piotr Litwin
K: Bartosz Świniarski
S: Jarosław Kamiński
M: Piotr Kurek
D: Dobromir Dymecki, Agnieszka Żulewska, Jean-Marc Barr, Alma Jodorowsky, Marcello Romolo u. a.

Hell scheint die mediterrane Sonne vor wolkenlosem Himmel auf das gepflegte Ferienhaus, gleich nebenan glitzert azurblau das Meer – das perfekte Setting für einen entspannten Urlaub. Gut, der ausgetrocknete Pool müsste noch repariert werden. Aber das werde sofort gemacht, beteuert der Vermieter dem eigenartig unterkühlt wirkenden polnischen Paar, das sich an der Küste Sardiniens eingemietet hat.

Aber Kino wäre nicht Kino, wenn sich hinter dieser Traumkulisse nicht dunkle Geheimnisse verbergen würden. Denn die sardische Küste ist nicht nur Sehnsuchtsort vieler Urlauber*innen, sondern auch von Geflüchteten, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen und dort Fuß zu fassen. Die polnischen Urlauber*innen Anna und Adam – und nicht nur sie – verschließen davor die Augen, aber durch die Hintertür dringen die globalen Probleme in ihren Alltag und in ihr Unterbewusstsein ein.

In langen statischen Einstelllungen mit sehr dezentem Musikeinsatz, in denen viel geschwiegen bzw. verschwiegen wird, arbeitet sich die Regisseurin sehr behutsam in die Psyche der Hauptfiguren (Dobromir Dymecki und Agnieszka Żulewska mit gekonntem Underacting) vor. Woszczyńska verknüpft geschickt ein Psycho-Kammerspiel mit zeitpolitischen Fragen, ohne dass eines der Themen in die zweite Reihe gedrängt wird. [Rainer Mende]

Aga Woszczyńska (geb. 1984 in Lódź) studierte Regie an der Filmhochschule ihrer Geburtsstadt. Während ihres Studium drehte sie sieben kurze Spielfilme, u. a. das preisgekrönte Drama „Fragmenty“ (2014), bevor sie mit „Cicha ziemia“ ihren ersten Langfilm in die Kinos brachte und auf Festivals mehrere Preise errang.

08.09. / 18:00 / Sputnik
10.09. / 15:00 / fsk Kino
12.09. / 19:00 / City-Kino Wedding

© New Europe Film Sales


Filip

PL 2022
R: Michał Kwieciński
125 min, OmeU
B: Michał Kwieciński & Michał Matejkiewicz
K: Michał Sobociński
S: Nikodem Chabior
M: Robot Koch
D: Eryk Kulm, Victor Meutelet, Caroline Hartig, Zoë Straub, Sandra Drzymalska u. a.

Der junge Schauspieler Filip hat im Warschauer Getto die Hölle erlebt. Die Nazis haben einen großen Teil seiner jüdischen Familie und seines Freundeskreises ausgelöscht. Er selbst ist nirgendwo mehr sicher. Aber er denkt nicht daran, sich in irgendeinem Keller zu verstecken. Ganz im Gegenteil: Stolz und selbstbewusst begibt er sich mitten ins Auge des Orkans und kellnert inkognito als „Franzose“ ausgerechnet in einem Luxushotel in Frankfurt am Main, wo sich die NS-Elite die Klinke in die Hand gibt. Mehr noch, er hat diverse Affären mit deutschen Frauen, obwohl darauf für beide Seiten die Todesstrafe steht.

Michał Kwieciński hat nach dem gleichnamigen Roman „Filip“ (1961) von Leopold Tyrmand einerseits einen klassischen Kriegsfilm ohne größere formale Experimente gedreht. Andererseits versucht er, sich von den Stereotypen dieser Gattung zu lösen und das zu tun, was er schon in Filmen wie „Biała sukienka / White Dress“ (2003) oder „Jutro idziemy do kina / Tomorrow We Are Going To The Movies“ (2007) perfektionierte – er fühlt sich in das Seelenleben junger Menschen ein, die zwar in die Wirren ihrer Zeit geworfen sind, aber eben auch einfach jung sein wollen. Das funktioniert, weil er ein exzellentes polnisches Ensemble hat, das seine deutschen Kollegen gnadenlos an die Wand spielt – allen voran Eryk Kulm, der als selbstbewusster Filip bei seinem Tanz auf dem Vulkan voll und ganz überzeugt. [Rainer Mende]

Michał Kwieciński (geb. 1951 in Warschau) hat sich vor allem als Produzent und Chef des Akson Studio einen Namen gemacht. Er sitzt aber auch immer wieder für Filme und Serien im Regiestuhl, darunter für die Komödie „Statyści / Die Komparsen“ (2006) und die Zwanzigerjahre-Serie „Bodo“ (2016).

07.09. / 18:00 / Sputnik
13.09. / 19:00 / City-Kino Wedding

© Cinestar / www.cinestar.de/film/filip


Fucking Bornholm

PL 2022
R: Anna Kazejak
99 min, OmdU
B: Filip K. Kasperaszek & Anna Kazejak
K: Jakub Stolecki
S: Maciej Pawliński
M: Jerzy Rogiewicz
D: Agnieszka Grochowska, Maciej Stuhr, Grzegorz Damięcki, Jaśmina Polak u. a.

Eigentlich ist es fast so wie immer. Die beiden Familien packen ihre Campinganhänger voll, laden die Kinder ein, setzen mit der Fähre auf die dänische Ferieninsel Bornholm über, suchen sich ein schönes Plätzchen in der Nähe von Strand und Spielplatz, klappen die Liegestühle aus und öffnen ein Bier – die besten Voraussetzungen für einen gelungenen Urlaub.

Aber irgendwie ist dieses Jahr alles anders. Nicht nur, dass einer der uralten Freunde eine neue, wesentlich jüngere Frau an seiner Seite hat. Gleich zu Beginn keimt auch der Verdacht auf, dass es zwischen den Kindern zu einem Fall von sexueller Belästigung gekommen ist. Damit ist die sommerliche Idylle schlagartig vorbei und der gemütliche Wohnwagen wird im Handumdrehen zum Ein-Wochen-Gefängnis – und zum Symbol für die Zwänge und Bürden, die man viel zu lange schweigend mit sich herumgetragen hat und die jetzt wie bei einem Vulkanausbruch an die Oberfläche geschleudert werden.

In diesem klassischen Kammerspiel kann sich Kazejak blind auf das Können ihrer Hauptdarsteller*innen – allen voran Agnieszka Grochowska als besorgte Mutter, die zum Wohl ihrer Familie schon viel zu lange ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt – verlassen, deren Figuren sich händeringend an eine idyllische Vergangenheit klammern, die längst vorbei ist und vermutlich nie wirklich idyllisch war. [Rainer Mende]

Anna Kazejak (geb. 1979 in Bytom) absolvierte die Filmhochschule in Łódź. 2010 gewann sie gemeinsam mit Jan Komasa und Maciej Migas mit „Oda do radości / Ode an die Freude“ den Golden Löwen beim Filmfestival in Venedig. Als Regisseurin war sie an zahlreichen TV-Serien beteiligt. Für ihre Filme wie das Fußballfan-Drama „Skrzydlate świnie / Flying Pigs“ (2010) und den Coming-of-Age-Film „Obietnica / The Word“ (2014) schrieb sie auch die Drehbücher.

12.09. / 18:00 / Sputnik

© Next Film


IO / EO

PL/ITA 2022
R: Jerzy Skolimowski
86 min, OmdU
B: Ewa Piaskowska & Jerzy Skolimowski
K: Michał Dymek
S: Agnieszka Glińska
M: Paweł Mykietyn
D: Sandra Drzymalska, Tomasz Organek, Mateusz Kościukiewicz, Lorenzo Zurzolo, Isabelle Huppert u. a.

Eigentlich fühlt sich der graue Esel Io (polnisch für „I-A“) in seinem Wanderzirkus sehr wohl. Seine Partnerin und Pflegerin Kasandra arbeitet nicht nur mit ihm, sondern ist seine beste Freundin, die ihm neben Futter auch Wärme und Geborgenheit gibt. Deshalb ist es für Io eine Katastrophe, als der Zirkus dichtmachen muss und er und Kasandra auseinandergerissen werden. Es beginnt eine Odyssee quer durch Europa, bei der der stumme, gutmütige und stets passive Held Stalleröffnungen schmückt, als Sonderpädagoge arbeitet, Fußballspiele entscheidet, märchenhafte Wälder durchstreift und stummer Zeuge von Verbrechen wird.

Der Regisseur gab zu Protokoll, das letzte Mal im Kino zu Tränen gerührt gewesen zu sein, als er Robert Bressons „Au hasard Balthazar / Zum Beispiel Balthasar“ (1966) gesehen habe. Wie sein schwedisch-französisches Vorbild hat auch er den Mut, dieses bekanntermaßen störrische Tier zum Protagonisten seines Roadmovies zu machen.

Skolimowski, Jahrgang 1938, erfindet sich seit seinem Regie-Comeback „Cztery noce z Anną / Vier Nächte mit Anna“ (2008) mit jedem Film neu und zeigt mit dem Oscar-nominierten Werk, dass er in Bezug auf Kreativität und Neugier groteskerweise zu den jüngsten Regisseur*innen Polens gehört. In diesem Meisterwerk gelingt ihm erneut der Spagat zwischen Komik und Tragik, Zeitgeist-Kommentar und zeitloser Parabel, formalem Experiment und semi-dokumentarischer Bildsprache. Hinzu kommen ein exzellentes Ensemble polnischer und internationaler Stars, jeweils in episodischen Rollen, und eine beeindruckende Tonspur, die im Zusammenspiel den Film zum Klassiker machen. [Rainer Mende]

Jerzy Skolimowski (geb. 1938 in Łódź) studierte Regie an der Filmhochschule Łódź. Der Zeitgenosse von Roman Polański, Andrzej Wajda und Krzysztof Komeda feierte auch als Drehbuchautor und Schauspieler früh Erfolge. 1967 verließ er Polen aus politischen Gründen und war fortan im Ausland an Filmproduktionen beteiligt, ab 1991 nur noch als Schauspieler. 2008 kehrte er auf den Regiestuhl zurück und dreht wieder regelmäßig Filme in Polen, die er auch produziert.

10.09. / 18:00 / City-Kino Wedding / mit Diskussion zum Thema „Casting in Deutschland und Polen“ / zu Gast: Anja Dihrberg-Siebler, Paulina Krajnik & Grzegorz Muskała
11.09. / 18:00 / Sputnik

© Aneta Gębska & Filip Gębski


Kobieta na dachu / Women On The Roof

PL/FRA/CH 2022
R/B: Anna Jadowska
97 min, OmeU
K: Ita Zbroniec-Zajt
S: Piotr Kmiecik & Julia Gregory
M: Katharina Nuttall
D: Dorota Pomykała, Bogdan Koca, Adam Bobik u. a.

Zwei Jahre Arbeit in der Geburtsstation hat die Ärztin Mira noch vor sich, dann ist die ersehnte Rente erreicht. Ihr Gehalt ist zwar nicht üppig, reicht aber für die kleine Block-Wohnung in der Provinzstadt und die dreiköpfige Familie – theoretisch, denn heimlich hat sie ihrer Schwester viel Geld geborgt, Kredite aufgenommen und kommt nun mit der Tilgung nicht mehr hinterher. Als die Lage aussichtslos wird, reagiert sie so verzweifelt wie ungeschickt: Sie versucht eine Bank zu überfallen, was gründlich schief geht. Aber anstatt sich ihren Verwandten anzuvertrauen, frisst sie den Kummer in sich hinein, bis sie auf dem titelgebenden Dach steht und vor sich nur noch den Abgrund sieht.

Wie schon in ihrem Drama „Dzikie róże / Wild Roses“ (2017) gelingt es Jadowska virtuos, weit ab von marktschreierischen Effekten mit kleinen Schritten ein Psycho-Porträt zu entwerfen, in dem das Verschwiegene schwerer wiegt als das Gesagte. Ihr größter Trumpf ist dabei Dorota Pomykała, die als verzweifelte Anti-Heldin sowohl das Kinopublikum als auch Festival-Jurys überzeugen konnte. In einem sehr breiten Bildformat mit hell und kühl ausgeleuchteten Szenen beherrscht sie ohne musikalische Unterstützung souverän die Leinwand. [Rainer Mende]

Anna Jadowska (geb. 1973 in Oleśnica) studierte Polonistik in Wrocław und Regie in Łódź. Als Regisseurin arbeitete sie für populäre TV-Serien wie „M jak miłość“ oder „Na dobre i na złe“. Als Autorenfilmerin drehte sie Dokumentar- und Spielfilme, wobei sie das mit zahlreichen Preisen (u. a. beim FilmFestival Cottbus) ausgezeichnete Drama „Dzikie róże / Wild Roses“ (2017) international bekannt machte.

07.09. / 20:00 / City-Kino Wedding
09.09. / 15:00 / fsk Kino / zu Gast: Anna Jadowska
10.09. / 21:00 / K 18 / zu Gast: Anna Jadowska

© Kobieta na dachu


Słoń / Elefant

PL 2022
R/B: Kamil Krawczycki
88 min, OmdU
K: Jakub Sztuk
S: Kamił Krakowski & Agnieszka Białek-Zaborowska
M: Jan Królikowski
D: Jan Hrynkiewicz, Paweł Tomaszewski, Ewa Skibińska, Ewa Kolasińska, Wiktoria Filus u. a.

Bartek tut, was er kann, um gemeinsam mit seiner Mutter den Pferdehof am Laufen zu halten. Sein Vater ist in den USA verschwunden, die Schwester mit ihrer Familie zum Arbeiten nach Norwegen gezogen. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden, der Hof muss wohl verkauft werden. Währenddessen kommt Dawid zurück ins Karpatendorf. Sein Vater hat sich totgesoffen und das Haus der Familie steht jetzt leer.

Bald stellen die beiden jungen Männer fest, dass sie ähnliche Fragen umtreiben: Bleiben und versuchen, sich etwas aufzubauen, oder fortgehen und das Glück in der weniger idyllischen, aber dafür einträglicheren Welt da draußen suchen? Und sie bemerken auch, dass sie mehr füreinander empfinden als bloße Freundschaft. Aber was für sie ganz natürlich erscheint, ist für einen Großteil der Dorfbewohner pure Perversion.

Behutsam entwickelt Krawczycki in schon fast zu malerischen Bildern vom Landleben in der Tatra einerseits die Coming-Out-Geschichte eines jungen Mannes (unprätentiös und dezent: Jan Hrynkiewicz) und legt gleichzeitig die Abgründe in einer nach außen hin geschlossen scheinenden Dorfgemeinschaft frei. Er verzichtet auf Krawall und unnötigen Schnickschnack, während er seinen Charakteren chronologisch und geradlinig die nötige Zeit für ihre Entwicklung lässt. [Rainer Mende]

Kamil Krawczycki studierte an der Warsaw Film School sowie der Wajda School in Warschau und drehte zwei Kurzfilme, bevor er mit „Słoń“ seinen ersten Langspielfilm veröffentlichte, mit dem er international – nicht nur auf LGBT+-Festivals – mehrere Preise gewann.

07.09. / 21:00 / K 18
10.09. / 16:00 / Sputnik

© Salzgeber & Co. Medien GmbH


Pisklaki / Fledglings

PL 2022
R/B: Lidia Duda
84 min, OmeU
K: Wojciech Staroń & Zuzanna Zachara-Hassairi
S: Jakub Śladkowski & Lidia Duda

Küken haben es ja ohnehin nicht leicht. Nach einer Gnadenfrist im warmen, geschützten Nest mit Rundum-Versorgung müssen sie früher oder später flügge werden, um selbstständig den Herausforderungen ihrer Umgebung zu trotzen. Die charismatische Zosia, der empfindsame Oskar und die eigensinnige, aber unsichere Kinga haben es noch etwas schwerer: Sie sind (fast) blind, als sie eingeschult werden. Ihre Schule mit Internat ist zwar mit geschultem Personal, kleinen Klassen, Handläufen etc. auf solche besonderen Küken vorbereitet, aber das „Fliegen“ ganz ohne die elterliche Begleitung muss jede/r für sich lernen. Vielleicht geht es gemeinsam schneller?

In stilsicherem Schwarz-Weiß, das zumindest ein wenig die Sehbehinderung der kleinen Held*innen adaptiert, kommen die virtuosen Kamerabilder von Wojciech Staroń und Zuzanna Zachara-Hassairi den Protagonist*innen extrem nah. Dabei bewahrt der Film im Wort- wie im übertragenen Sinne stets Augenhöhe – die Erwachsenen bleiben im Hintergrund und sind höchstens fragmentarisch zu sehen, während die Zuschauer*innen Zosia, Oskar und Kinga in die leeren und doch vielsagenden Augen schauen. Lidia Dudas Kunststück ist dabei, nie ins Voyeuristische abzudriften, sondern empathisch die ersten Flugversuche zu beobachten. [Rainer Mende]

Lidia Duda (geb. 1958 in Tychy) widmet sich seit dem Beginn ihrer Filmkarriere 2001 ausschließlich dem Dokumentarischen. Neben „Pisklaki“ fanden vor allem ihre Filme „Herkules wyrusza w świat / Hercules Ventures Into The World“ (2005) und „Uwikłani / Entangled“ (2012) international Anerkennung.

10.09. / 18:00 / Sputnik
11.09. / 19:00 / City-Kino Wedding

© Pisklaki


 



Titelfoto: Cicha Ziemia / Silent Land © New Europe Film Sales