Unsere Geschichte/n. Neues Kino polnischer Regisseurinnen

08.–17.09.2023 / Zeughauskino

In den letzten zehn Jahren ist in Polen eine ganze Generation von Regisseurinnen ins Rampenlicht getreten, die sich mit Filmen ganz eigener Art einen Namen gemacht haben. Die Anzahl der nationalen und internationalen Auszeichnungen, die sie gewonnen haben – darunter Preise bei den Filmfestivals in Venedig und Berlin – sprechen für sich. Geboren zwischen 1973 und 1984, haben Anna Jadowska, Anna Kazejak, Elwira Niewiera, Katarzyna Rosłaniec, Jagoda Szelc, Agnieszka Smoczyńska, Małgorzata Szumowska und Anna Zamecka das polnische Kino der Gegenwart mitgeprägt und zum Teil neu erfunden: mit Spiel- und Dokumentarfilmen, mit Familiendramen, Thrillern, Kammerspielen und Grenzgängern, die sich einer Genrezuordnung bewusst entziehen. Ihre Filme sind spannend und geheimnisvoll, entschlossen, engagiert, unorthodox, witzig und hintergründig.

Sie sind nicht allein in der Geschichte des polnischen Films. Weithin berühmt ist Agnieszka Holland, im Dokumentar- und Animationsfilm haben Jolanta Dylewska und Izabela Plucińska einen exzellenten Ruf. Neben großartigen Schauspielerinnen sind Frauen auch als Produzentinnen, Ausstatterinnen, Kamerafrauen und Cutterinnen im polnischen Film omnipräsent. Dazu kommen Visagistinnen, Szenenbildnerinnen und Kostümdesignerinnen. Heute arbeiten Frauen in vielen kreativen Bereichen der Filmbranche, beispielsweise Teoniki Rożynek als Filmkomponistin, Milena Fiedler und Weronika Bilska als Kamerafrauen oder Ewa Puszczyńska und Izabela Kiszka-Hoflik als Produzentinnen.

Die Gleichberechtigung ist ein wichtiges Thema in den Debatten über das Filmgeschäft. Das gilt ebenso für Missbrauch und Mobbing und die Arbeitsbedingungen im Film- und Theaterbereich im Allgemeinen.

Inzwischen sind in Polen einige tausend Frauen aus allen Bereichen der Film- und TV-Branche in der informellen Initiative „Kobiety filmu“ (Filmfrauen) versammelt. 2018 forderte diese beim Polnischen Filmfestival in Gdynia in einer „Deklaration zur Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche“ eine stärkere Beteiligung von Frauen im Filmbusiness. Auch fünf Jahre später ist der Weg bis zur Geschlechterparität noch weit. Doch es geht voran: Das Festival in Gdynia bekam kürzlich mit Joanna Łapińska zum ersten Mal eine künstlerische Leiterin und das Krakauer Festival OFF CAMERA verleiht seit Mai 2023 den „Female Voice Award“ für herausragende, mutige Filmfrauen – neben Regie auch in den Sparten Produktion, Drehbuch und Kamera.

Unsere Auswahl von acht Filmen aus den Jahren 2012 bis 2017, die unter der Regie von Frauen entstanden, zeigt vor allem eines: Das polnische Kino ist vielfältig, kritisch und aufregend – dank seiner von Frauen inszenierten und dokumentierten Geschichten. [Rainer Mende]

Programm:

Baby Blues
Body/Ciało
Córki dancingu / Sirenengesang
Dzikie róże / Wilde Rosen
Komunia / Kommunion
Książę i dybuk / Der Prinz und der Dybbuk
Obietnica / The Word
Wieża. Jasny dzień. / Tower. A Bright Day.

 


 

Baby Blues

PL 2012
R/B: Katarzyna Rosłaniec
101 min, OmeU
K: Jens Ramborg
S: Bartosz Pietras & Jacek Drosio
D: Magdalena Berus, Nikodem Rozbicki, Klaudia Bułka, Michał Trzeciakowski, Magdalena Boczarska, Renata Dancewicz, Katarzyna Figura, Jan Frycz, Mateusz Kościukiewicz, Danuta Stenka u. a.

Natalia ist siebzehn und bekommt ein Kind. Beinahe scheint es, als ginge es ihr vor allem um die Aufmerksamkeit, die das Kind ihr verschafft. Vielleicht sucht sie auch bloß jene persönliche Nähe, die ihr in der eigenen Familie fehlt. Aber das Muttersein ist ein Vollzeitjob. Wie geht jemand, der im Herzen noch ein halbes Kind ist, damit um, dass zwischen den Heile-Welt-Szenarien der Massenmedien und der Realität eine tiefe Kluft liegt? Natalia jedenfalls kann und will sich nicht ins vorherrschende Rollenmuster der fürsorglichen Mutter fügen.

Katarzyna Rosłaniec (geb. 1980 in Malbork) wurde nach dem Filmstudium in Warschau durch „Galerianki“ (2009) bekannt. Schon damals galt ihr Interesse jungen heranwachsenden Frauen, die von Statussymbolen abhängig sind und sich für die Erfüllung ihrer Konsumträume sogar prostituieren. „Bejbi Blues“, inszeniert in bunten Werbeclip-Farben mit Laiendarstellerinnen, sucht nicht nach individueller Schuld, sondern beschreibt ein ganzes Geflecht aus Wechselwirkungen, die zum Scheitern der Heldin führen. [Rainer Mende]

17.09. / 18:00 / Zeughauskino

© Łukasz Niewiadomski

 


Body/Ciało

PL 2015
R: Małgorzata Szumowska
89 min, OmdU
B: Małgorzata Szumowska & Jan Englert
K: Michał Englert
S: Jacek Drosio
D: Janusz Gajos, Maja Ostaszewska, Justyna Suwała u. a.

Staatsanwalt Janusz und seine Tochter Olga sind geschlagene Seelen, die wie Geister durch einen matt gefärbten Alltag trotten. Der Tod von Olgas Mutter vor Jahren drückt sie nieder. Janusz flüchtet sich in Zynismus, Olga kämpft mit Magersucht. Ihre Therapeutin, die selbst den Verlust ihres Sohnes betrauert, bietet an, dass sie als Medium Botschaften der Toten an die Lebenden überbringen könne. Gelingt es ihr, die von Entfremdung geprägte Beziehung zwischen Vater und Tochter ins Reine zu bringen? Sind vielleicht nicht die Toten, sondern die Hinterbliebenen die Geister, die ziel- und rastlos durch die Welt irren?

Małgorzata Szumowska (geb. 1973 in Kraków) machte sich nach ihrer Ausbildung an der Filmhochschule in Łódź zunächst mit internationalen Produktionen einen Namen, bevor sie für „Body/Ciało“ das exzellente Ensemble aus Justyna Suwała, Janusz Gajos und Maja Ostaszewska zusammenstellte. Ihrem Film, der bei der Berlinale den Silbernen Bären gewann, gelingt das Kunststück, auf dem schmalen Grat zwischen Tragik und Komik zu balancieren. [Rainer Mende]

15.09. / 17:30 / Zeughauskino

© Jacek Drygała

 


Córki dancingu / Sirenengesang

PL 2015
R: Agnieszka Smoczyńska
92 min, OmdU
B: Robert Bolesto
K: Jakub Kijowski
S: Jarosław Kamiński
M: Ballady i Romanse
D: Kinga Preis, Michalina Olszańska, Marta Mazurek, Jakub Gierszał, Andrzej Konopka, Zygmunt Malanowicz u. a.

„Zieht uns heraus / Fürchtet euch nicht / Wir werden euch schon nicht auffressen!“ Mit diesem Gesang lenken zwei Nixen die Aufmerksamkeit einer feiernden Gesellschaft an der Weichsel auf sich. An Land gezogen, finden sie sich mitten in der bonbonbunten Welt der Achtzigerjahre wieder. In einem Tanzclub sollen sie als neue Bühnenattraktion die Kassen klingeln lassen, doch die Gestalten aus dem Fluss lassen sich nicht domestizieren.

Mit ihrem Debüt eroberte Agnieszka Smoczyńska (geb. 1978 in Wrocław) das Publikum im Handumdrehen. Ihre wilde Genremixtur aus Musical, romantischer Komödie, modernem Märchen, Ostalgie-Trip, Trash und Horror gewann zahlreiche Preise, darunter den Sonderpreis der Jury beim Sundance Festival. Ihr Film ist vieles zugleich: eine Sozialstudie der sozialistischen Volksrepublik Polen kurz vor ihrem Untergang, eine Allegorie auf das ungezügelte Weibliche und eine neuinterpretierte Geschichte der Warschauer Wappenfigur – der Seejungfer. Im letzten Jahr feierte Smoczyńskas jüngster Film, die englischsprachige polnisch-britische Koproduktion „The Silent Twins“, beim Filmfestival von Cannes seine Premiere. [Rainer Mende]

10.09. / 20:00 / Zeughauskino / zu Gast: Agnieszka Smoczyńska

© WFDiF / Robert Pałka

 


Dzikie róże / Wilde Rosen

PL 2017
R/B: Anna Jadowska
93 min, OmdU
K: Małgorzata Szyłak
S: Anna Mass
M: Agnieszka Stulgińska
D: Marta Nieradkiewicz, Michał Żurawski, Halina Rasiakówna, Konrad Skolimowski u. a.

Sommer auf dem Land. Der Horizont ist weit, die Bienen summen, das Sonnenlicht taucht die Felder in warme Farben. Mitten in dieser arkadischen Landschaft wohnt Ewa mit ihrer Mutter, ihrer Tochter und ihrem kleinen Sohn in einem halbfertigen Haus. Um das Geld für die Fertigstellung zu verdienen, arbeitet ihr Mann in Norwegen und kommt nur selten nach Hause. Sie selbst ist auf einer Rosenplantage beschäftigt. Ewa fühlt sich einsam, jede Anstrengung wird für sie zur Qual. Sie lässt sich auf eine Affäre mit einem Teenager ein. Dann verschwindet ihr zweijähriger Sohn.

Scheinbar emotionslos folgt die Kamera der Protagonistin auf Schritt und Tritt. Im Film von Anna Jadowska (geb. 1973 in Oleśnica), Absolventin der Filmhochschule in Łódź, wirkt alles unspektakulär und alltäglich. Doch hinter Andeutungen und Intrigen entfaltet sich ein Drama von antikem Ausmaß. „Dzikie róże“ gewann zahlreiche Preise, darunter den Hauptpreis beim Festival des osteuropäischen Films in Cottbus. [Rainer Mende]

08.09. / 19:00 / Zeughauskino / Eröffnung der Retrospektive / zu Gast: Anna Jadowska

© Alter Ego Pictures Sp. z o.o.

 


Komunia / Kommunion

PL 2016
R/B: Anna Zamecka
72 min, OmdU
K: Małgorzata Szyłak
S: Agnieszka Glińska, Anna Zamecka & Wojciech Janas

Die 14-jährige Ola ist Ersatzmutter für ihren ein Jahr jüngeren Bruder Nikodem, der als Autist in seiner ganz eigenen Vorstellungswelt lebt. Zum Glück gibt es ein Projekt, das Hoffnung gibt: Nikodem möchte zur Kommunion zugelassen werden. Ola unterstützt ihn dabei und versucht so auch, ihre Familie zusammenzuhalten. Dabei wäre sie doch selbst so gern noch ein Kind, um das man sich ab und an sorgt. Auf unprätentiöse Weise erzeugt der Dokumentarfilm eine große Nähe zu seinen Protagonist*innen und überrascht durch Wendungen, die in einem Spielfilm wohl als unrealistisch und lebensfern wahrgenommen werden würden.

Anna Zamecka (geb. 1982) studierte zunächst Journalismus, Anthropologie und Fotografie sowie später Dokumentarfilm an der Wajda Film School. Mit „Komunia“ gewann sie den Europäischen Filmpreis. Ihr Film behandelt mit feinem Gespür für Zwischentöne weit mehr als das Thema Inklusion. [Rainer Mende]

09.09. / 20:00 / Zeughauskino

© HBO Europe

 


Książę i dybuk / Der Prinz und der Dybbuk

D/PL 2017
R/B: Elwira Niewiera & Piotr Rosołowski
82 min, OmdU
K: Piotr Rosołowski
S: Andrzej Dąbrowski

Geboren 1904 als Sohn eines armen jüdischen Schmieds in Wolhynien, wurde Moshe Waks unter dem Namen Michał Waszyński einer der bekanntesten Filmregisseure und Produzenten seiner Generation. Bis zum Zweiten Weltkrieg drehte er allein in Polen 37 Spielfilme und war später verantwortlich für mehrere Großproduktionen amerikanischer Studios, darunter „The Fall of the Roman Empire“ (1964). Stars wie Sophia Loren, Claudia Cardinale und Orson Welles arbeiteten mit ihm zusammen. Wegbegeiter*innen erinnern sich an einen schillernden Aristokraten aus dem Osten Europas und einen ewig getriebenen Wanderer, der homosexuell war und eine Gräfin heiratete.

Aber wer war er wirklich? Einen Schlüssel zu seinem Werk liefert sein Film „Der Dybbuk“ (1937), gedreht auf Jiddisch und so geheimnisvoll wie sein Regisseur. Die Regisseurin Elwira Niewiera (geb. 1976 in Raciborz), die „Książę i dybuk“ zusammen mit Piotr Rosołowski drehte, folgt Waszyńskis Spuren um die halbe Welt und entwirrt ein Netz aus Wahrheit und Fiktion. Beim Filmfestival in Venedig gewannen sie dafür den Venice Classics Award. [Rainer Mende]

11.09. / 19:00 / Zeughauskino / zu Gast: Elwira Niewiera & Piotr Rosołowski

© Salzgeber & Co. Medien GmbH

 


Obietnica / The Word

PL 2014
R: Anna Kazejak
97 min, OmeU
B: Anna Kazejak & Magnus von Horn
K: Klaudiusz Dwulit
S: Morten Hojbjerg
M: Kristian Eidnes Andersen
D: Eliza Rycembel, Mateusz Więcławek, Magdalena Popławska, Dawid Ogrodnik, Andrzej Chyra, Jowita Budnik u. a.

Lila und Janek schlagen sich mit Freud und Leid des Erwachsenwerdens herum, machen erste Erfahrungen mit Liebe, Loyalität und Verrat, probieren Drogen und verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit Skype und Facebook vor dem Computer. Dann macht Janek einen Fehler und Lila wendet sich von ihm ab. Der Konflikt spitzt sich zu, als Lila zur Wiedergutmachung eine Tat von Janek verlangt, die sich durch keine Tastenkombination wieder rückgängig machen lässt.

Anna Kazejak (geb. 1979 in Bytom) absolvierte die Filmhochschule in Łódź und gewann 2010 gemeinsam mit Jan Komasa und Maciej Migas mit „Oda do radości“ den Golden Löwen beim Filmfestival in Venedig. Zuletzt erschien von ihr „Fucking Bornholm“ über Familien, die in ihrem Urlaub vor einer Zerreißprobe stehen. [Rainer Mende]

12.09. / 19:00 / Zeughauskino

© Phillip Skraba / Opus Film

 


Wieża. Jasny dzień. / Tower. A Bright Day.

PL 2017
R/B: Jagoda Szelc
106 min, OmeU
K: Przemysław Brynkiewicz
S: Anna Garncarczyk
M: Teoniki Rożynek
D: Anna Krotoska, Małgorzata Szczerbowska, Anna Zubrzycki, Dorota Łukasiewicz-Kwietniewska, Rafał Kwietniewski, Rafał Cieluch, Laila Hennessy u. a.

Mulas Haus liegt idyllisch in Südpolen und bietet ausreichend Platz, um zur Erstkommunion von Nina die von weiter her angereisten Familienmitglieder zu beherbergen. Auch Mulas Schwester Kaja kommt zum Fest, nachdem sie zuvor sechs Jahre lang verschwunden war. Ihr Erscheinen trübt die Stimmung nachhaltig. Denn Kaja ist Ninas leibliche Mutter, doch das darf das Kind nicht erfahren. So entwickelt sich der Film zu einem Kammerspiel voller Verdächtigungen, verschwiegener Wahrheiten und subtiler Andeutungen.

Die an der Filmhochschule in Łódź ausgebildete Regisseurin Jagoda Szelc (geb. 1984 in Wrocław) zeigt mit ihrem ersten Langfilm, der 2018 den Jurypreis bei filmPolska gewann, eine erstaunliche Souveränität im Umgang mit dem Genre des Psychothrillers: Ihr Film wagt sich in den Bereich des Unterbewussten und schafft eine atmosphärisch dichte, psychologisch reife Inszenierung, die Vergleiche mit David Lynch nicht scheuen muss. [Rainer Mende]

16.09. / 20:00 / Zeughauskino

© 2017 Film Studio Indeks / PWSFTviT / Odra-Film / Centrala / Dreamsound / Heliograf / EBH

 





Kooperationspartner: Deutsches Historisches Museum / Zeughauskino



Weitere Informationen zur Retrospektive im Online-Katalog, im Filmprogramm und auf der Website des Deutschen Historischen Museums / Zeughauskinos.


Titelfoto: „Body/Ciało“- Justyna Suwała, Maja Ostaszewska © Jacek Drygała