Die Jury

 

Der Regisseur, Autor und Produzent Andreas Goldstein (geb. 1964 in Ostberlin) schloss zunächst eine Berufsausbildung als Schriftsetzer ab, bevor der an der HU Berlin Kultur- und Theaterwissenschaften und Regie an der HFF Potsdam-Babelsberg studierte. 1999 war er Meisterschüler an der Akademie der Künste. Erste filmische Erfahrungen sammelte er als Regieassistent und Mitarbeiter bei Peter Voigt und als freier Produzent, dann gründete er 2008 mit Susanne Binninger die Produktionsfirma Oktoberfilm GbR. Er führte u. a. Regie für den Spielfilm „Adam und Evelyn“ (2018) und den Dokumentarfilm „Der Funktionär“ (2019). Der von Goldstein mitproduzierte Dokumentarfilm „Reine Männersache“ (2011) wurde für den Grimme-Preis nominiert. Gelegentlich publiziert er filmtheoretische und filmkritische Texte.

 

Milena Gregor (geb. 1969) absolvierte ein Literatur-, Sprachen- und Filmstudium an Universitäten in Berlin, Paris und Norwich (GB). Zwischen 2004 und 2022 war sie Ko-Leiterin des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V., seit 2022 ist sie Ko-Leiterin des Kino Arsenal. Sie betreute kuratorische Projekte vor allem im filmhistorischen Bereich, darunter die Magical History Tour (seit 2008) sowie zahlreiche Retrospektiven.

 

 

 

Miriam Henze stammt ursprünglich aus Köln, wuchs aber auch in Mexiko auf, wo sie ein Studium der Audiovisuellen Künste an der Universidad de Guadalajara absolvierte. Anschließend belegte sie einen Masterstudiengang in Film- und Fernsehproduktion mit dem Schwerpunkt internationale Produktion an der HFF Potsdam-Babelsberg. Als Produzentin hat sie an Spiel- und Dokumentarfilmen gearbeitet und war ab 2020 beim Berlinale World Cinema Fund als Koordinatorin für geförderte Projekte tätig. Seit 2024 arbeitet sie als Förderreferentin beim Medienboard Berlin-Brandenburg.

 

 

Der freie Filmkritiker, Kulturjournalist und Moderator Patrick Wellinski (geb. 1986 in Braunschweig) wuchs in Berlin auf. Er studierte Geschichte und Theaterwissenschaft an der FU Berlin und Journalistik an der Universität Leipzig. Schon während des Studiums war er als freischaffender Filmkritiker und Journalist tätig. Er moderiert und arbeitet vor allem für Radioprogramme des Deutschlandradios. Dort ist er in erster Linie als Moderator, Kritiker und Redakteur für das wöchentliche Filmmagazin „Vollbild“ zuständig und berichtet von den wichtigsten nationalen und internationalen Festivals über das weltweite Filmgeschehen.

 

 


 

Der Wettbewerb

 


 

Ha’Mishlahat / Delegacja / Delegation

IL/PL/D 2023
R/B: Asaf Saban
101 min, OmdU
K: Bogumił Godfrejów
S: Michal Oppenheim
M: Assaf Talmudi
D: Neomi Harari, Yoav Bavly, Leib Lev Levin, Ezra Dagan, Alma Dishy u. a.

Wie Tausende andere junge Menschen aus Israel reist eine Gruppe quer durch Polen, um an authentischen Schauplätzen etwas über die Geschichte ihrer Vorfahren und deren systematische Vernichtung durch die deutschen NS-Besatzer zu erfahren. Dabei werden Frisch, Ido, Nitz und ihre Klassenkamerad*innen nicht nur von Zeitzeugen begleitet, sondern auch von Sehnsüchten und Sorgen, welche alle Teenager in diesem Alter umtreiben – die erste Liebe, die erste Enttäuschung, die erste Identitätssuche, die erste Fernreise ohne den kontrollierenden Blick der Eltern.

Das Coming-of-Age-Roadmovie zeigt einerseits eine Reise, die prototypisch für jene Mischung aus hochemotionaler Geschichtsstunde und Partytour ist, wie sie viele Jugendliche aus Israel erlebt haben, bevor sie in die Armee eingezogen wurden. Gleichzeitig schildert der Film ein filigranes Beziehungsdreieck, das von einer Überdosis an Impressionen und Hormonen kräftig durchgerüttelt wird.

Der Film schafft es gekonnt, die Bustour weder als bloßes Erinnerungskultur-Theater zu diskreditieren noch sie pathetisch zu überhöhen. Vielmehr zeichnet er ein warmherziges, glaubwürdiges Panorama über das Erwachsenwerden und die Schwierigkeiten der Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert – auch dank der herausragenden Leistungen der jungen Hauptdarsteller*innen, allen voran Neomi Harari als gleichzeitig draufgängerische und verletzliche Nitzan. [Rainer Mende]

12.09. / 20:00 / fsk / zu Gast: Asaf Saban
13.09 / 19:00 / Topographie des Terrors / zu Gast: Asaf Saban
14.09. / 20:30 / Bundesplatz-Kino / zu Gast: Asaf Saban

© Natalia Łączyńska

 


 

Dziewczyńskie historie / Girls‘ Stories

PL 2023
R/B/S: Aga Borzym
60 min, OmeU
K: Kachna Baraniewicz
M: Barbara Wrońska

Jagoda und Zuzia gehören zur TikTok-Generation, sind beste Freundinnen und stehen gerade an der Schwelle zur Pubertät. Und sie sind Prototypen dessen, was man gemeinhin als „frühreif“ bezeichnet – sie sind umfassend aufgeklärt und machen sich tiefgreifende Gedanken über Partnerschaft und Lebensgestaltung, sehnen aber immer noch ihre erste Periode herbei, die sie endlich zu Erwachsenen machen soll.

Zwischen Spielplatz, Schule und sozialen Medien beobachten wir über viele Monate hinweg, wie der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben tatsächlich Fahrt aufnimmt und überraschend unterschiedliche Entwicklungen in Gang bringt. Denn der Blick auf sich selbst und die Umgebung verändert sich bei den beiden Mädchen nicht so gleichartig, wie es die anfängliche Harmonie vermuten lässt. Wie zwei Prototypen spiegeln die Charaktere mögliche Wege, die man in diesem Alter einschlagen kann – von früher Karriereplanung und bewusster Arbeit am eigenen Erscheinungsbild über resignierte Gleichgültigkeit bis zu Essstörungen und psychischen Problemen.

In vielen kleinen, auf den ersten Blick unspektakulären Szenen mit viel Wortanteil, unterbrochen von kurzen Animationen, zeigt die Regisseurin, wie die Sehnsucht nach dem Erwachsensein langsam der pubertären Desillusionierung und Ratlosigkeit weicht. Dabei bleibt sie stets nah an ihren Protagonistinnen und gibt ihnen den Raum, sich so darzustellen, wie sie es wollen. [Rainer Mende]

12.09. / 20:30 / Bundesplatz-Kino / zu Gast: Aga Borzym
13.09. / 20:00 / fsk / zu Gast: Aga Borzym
14.09. / 18:00 / Sputnik / zu Gast: Aga Borzym

@ Aga Borzym

 


 

Imago

PL/NL/CZ 2023
R: Olga Chajdas
113 min, OmeU
B: Lena Góra & Olga Chajdas
K: Tomasz Naumiuk
S: Pavel Hrdlička
M: Andrzej Smolik
D: Lena Góra, Bogusława Schubert, Mateusz Więcławek, Wacław Warchoł, Michał Balicki, Wojciech Brzeziński u. a.

Gdańsk in den Achtzigerjahren – graue Industriemetropole und Fenster zur Welt, Hort katholischer Familientraditionen und Hotspot einer alternativen Jugendkultur, die der New Wave aus Manchester viel näher steht als dem sozialistischen Mainstream aus Warschau. In dieser explosiven Mischung schlägt sich Ela durch ihr junges Erwachsenenleben. Doch irgendwie scheint ihr freier Geist nicht kompatibel mit dem traditionellen Erwartungen ihrer Familie zu sein.

Elas Fluchtwege sind die Musik, die Kunst, die Drogen, der Sex. Wie im Rausch treibt sie aktiv und passiv durch die Subkultur der Dreistadt, scheinbar losgelöst von Raum und Zeit – die doch ihre Grenzen haben, denn der kommunistische Staat hat Erwartungen in seine Staatsbürgerinnen, vor allem in ihre Rolle als berufstätige Mütter und Ehefrauen. Die passt nicht zu einer Frau, die Kette raucht, als Sängerin einer Indie-Band nächtelang durch die Clubs tingelt, an Performances mitwirkt und deren Leben selbst eine Performance ist.

In ihrem Zweitwerk taucht Olga Chajdas mit dezidiert weiblichem Fokus tief in das Lebensgefühl der Achtzigerjahre ein, das sie kongenial zitiert – u. a. durch den Retro-Soundtrack von Andrzej Smolik und die körnig-analogen Bildern von Tomasz Naumiok. Hauptdarstellerin und Co-Autorin Lena Góra schlüpft mit Bravour in ihre bisher vermutlich schwierigste Rolle – die ihrer (inzwischen verstorbenen) Mutter, die als Sängerin die nordpolnische Kulturszene der Achtzigerjahre prägte und mit der sie sich durch diesen Rollentausch aussöhnt. [Rainer Mende]


14.09. / 21:00 / K 18
15.09. / 20:00 / fsk
16.09. / 18:00 / Bundesplatz-Kino

@ Robert Pałka, Apple Film

 


 

Prawy chłopak / Polish Prayers / Das rechte Leben. Eine Jugend in Polen

PL/CH 2023
R: Hanna Nobis
85 min, OmdU
B: Hanna Nobis & Esther van Messel
K: Miłosz Kasiura
S: Bigna Tomschin
M: Marcel Vaid

Antek wirkt noch recht unsicher, aber im Kreis seiner erzkonservativen Bruderschaft fühlt er sich stark. Ihre Werte wie Männlichkeit, Katholizismus und ein traditionelles Familienbild geben ihm Sicherheit und wenn er mit seinen Kumpels gemeinsam gegen LGBTQ+-Demos protestiert, ist er als Vorsänger ganz in seinem Element. Erst durch eine feste Freundin lernt er andere Sichtweisen kennen – dass man nicht zwingend einen Gott braucht, um ein rechtschaffener Mensch zu sein, dass man tolerant gegenüber anderen Lebensstilen sein kann und dass Sex vor der Ehe vielleicht doch nicht unweigerlich in die ewige Verdammnis führt.

Über einen langen Zeitraum begleitet die Regisseurin ihren Protagonisten und dokumentiert dabei eine erstaunliche Entwicklung. Nicht nur, dass der hagere, fromme junge Mann auf einmal Meditation, Drogen und Bodybuilding für sich entdeckt. Auch seine Sicht auf die Welt und nicht zuletzt auf sich selbst durchläuft eine grundlegende Metamorphose. Aber wie kompatibel ist dieser neue Antek noch mit seinem sozialen Umfeld, das nach wie vor fleißig betet und ein Kind nach dem anderen in die Welt setzt?

Hanna Nobis erzählt eine Geschichte mit überraschenden Wendungen, die man unmöglich in einem Drehbuch vorausplanen kann. Die Kamera bleibt dabei stets nah an ihrem Beobachtungsgegenstand und wird für ihre Geduld belohnt: Der Film hält immer wieder intime Momente von berückender Authentizität fest, wie sie im Dokumentarfilm selten sind. [Rainer Mende]

15.09. / 16:00 / Thalia Potsdam
16.09. / 20:00 / fsk / zu Gast: Hanna Nobis
17.09. / 20:00 / Sputnik / zu Gast: Hanna Nobis
18.09. / 20:30 / Bundesplatz / zu Gast: Hanna Nobis


@ First Hand Films

 


 

Skąd dokąd / In the Rearview / Im Rückspiegel

PL/FRA/UKR 2023
R: Maciek Hamela
84 min, OmdU
K: Yura Dunay, Wawrzyniec Skoczylas, Marcin Sierakowski & Piotr Grawender
S: Piotr Ogiński
M: Antoni Komasa-Łazarkiewicz

Auch wenn sie nichts sagen, sprechen ihre Gesichter Bände. Zusammengepfercht sitzen sie auf den Bänken des Kleinbusses und blicken in eine ungewisse Zukunft. In ihren Augen sieht man Angst, Erschöpfung, Sorge, selten Erleichterung. Erst langsam versteht man: Das ist keine Urlaubsreise, sondern eine Evakuation. Die Passagier*innen lassen den Krieg im Osten der Ukraine hinter sich und mit ihm ihr Hab und Gut, Verwandte, Tiere, ihr bisheriges Leben. Eine lange und nicht ungefährliche Fahrt liegt noch vor ihnen.

Der Film beschränkt sich in seinen Mitteln auf das Nötigste. Meist beobachten wir die Flüchtenden wie der Fahrer – statisch, im Rückspiegel, den Blick eher zurück als nach vorn gerichtet. In den wenigen Szenen außerhalb des Autos entfaltet sich der dramatische Kontext des Geschehens – tränenreiche Abschiede, Minen auf der Straße, gesprengte Brücken und immer wieder Straßensperren. Und doch gibt es Hoffnung, denn jede Fahrt bringt wieder eine Handvoll Menschen in Sicherheit. [Rainer Mende]

11.09. / 19:30 / City Kino Wedding / zu Gast: Maciek Hamela
12.09. / 20:00 / Sputnik / zu Gast: Maciej Hamela
13.09. / 20:30 / Bundesplatz-Kino / zu Gast: Maciej Hamela
17.09. / 20:00 / fsk

© Affinity Cine, Pemplum

 


 

To tylko/aż ciało … albo krótki film o wolności / It’s only/Not Only a Body

PL 2023
R/B/K: Michał Hytroś
82 min, OmeU
S: Yakiv Komarynsky
M: Magda Kramer & Tomasz Szkiela

Zosias Körper ist etwas Besonderes. Nicht nur, dass er mit Tattoos übersät ist, er dient auch als Vorbild. Zosia hilft nämlich anderen Frauen, ein positives Verhältnis zu ihrem Körper zu entwickeln. Dann steigt sie in ihr altes Wohnmobil, fährt mit ihnen ins Grüne, greift in Wald und Feld zur Kamera und zeigt mit ihren Fotos, dass jeder Körper als Teil der Natur auf seine Weise schön ist. Die Frauen, die sich von ihr in ästhetischem Schwarz-Weiß ablichten lassen, teilen mit ihr nicht nur den Anblick ihrer unverhüllten Körper, sondern auch ihre Geschichten. Sie erzählen von Essstörungen, Bodyshaming, psychischen Problemen und sozialer Ablehnung.

Doch als wir Zosia näher kennenlernen, erfahren wir, dass auch sie sich ihre positive Einstellung zu ihrem Körper hart und schmerzvoll erarbeiten musste. Diese Frau, die anderen den Weg zu einem harmonischen Körpergefühl ebnet, ist keineswegs frei von Zweifeln. Ihre rastlose Lebensweise hat ihre Schattenseiten – sie verleiht keine Stabilität und erlaubt keine festen sozialen Bindungen. Irgendwann fühlt Zosia, dass sie sich entscheiden muss – weiter als Freigeist an wechselnden Orten anderen helfen oder doch sesshaft werden und sich mehr um das eigene psychische Wohl kümmern?

Michał Hytroś zeichnet – unterstützt von Karina Paciorkowskas Animationen – anhand der Aufs und Abs seiner Protagonistin und ihrer Kundinnen das Kollektivporträt einer Gesellschaft, die zwischen tradierten sozialen Rollen und postmodernen Lebenswelten zerrissen ist. Gleichzeitig zeigt er mit großer Empathie die Haarrisse im Weltbild seiner Hauptfigur. [Rainer Mende]

16.09. / 20:00 / Sputnik / zu Gast: Michał Hytroś
17.09. / 20:30 / BundesplatzKino / zu Gast: Michał Hytroś
18.09. / 20:00 / fsk / zu Gast: Michał Hytroś

@ Michał Hytroś

 


 

Tyle co nic / Next To Nothing / So gut wie nichts

PL 2023
R/B: Grzegorz Dębowski
93 min, OmdU
K: Aleksander Pozdnyakov
S: Anna Garncarczyk
D: Artur Paczesny, Monika Kwiatkowska, Agnieszka Kwietniewska, Artur Steranko u. a.

Auf dem Dorf ist der Winter wieder mal matschig, tief hängt der graue Himmel über der hügeligen Provinz. Seit die LPG dicht gemacht hat, versucht hier jeder auf eigene Faust, sich irgendwie durchzuwurschteln. Aber auf dem Land ist man auch immer auf die Unterstützung anderer angewiesen – so wie der Bauer, dem gerade das Haus abgebrannt ist. Jarek setzt sich für ihn ein, klappert die Nachbarn ab und bittet sie um Unterstützung, um ihm über das Gröbste hinweg zu helfen. Er bietet seiner Familie sogar Unterschlupf.

Überhaupt ist Jarek äußerst engagiert. Als er erfährt, dass ein Lokalpolitiker zu Ungunsten seines Dorfs abgestimmt hat, trommelt er kurzerhand die Bauern zusammen und kippt dem vermeintlichen Verräter einen großen Haufen Mist aufs Grundstück. Dummerweise wird in genau diesem Misthaufen die Leiche des Bauern entdeckt, dem der Hof abgebrannt ist. Der Aktivist wird zum Verdächtigen.

In einer Mischung aus Krimi und Sozialstudie lernen wir mit paradokumentarischen Bildern eine Dorfgemeinschaft kennen, die sich im tiefgreifenden Umbruch befindet. Jede der Figuren – herausragend gespielt von einem Ensemble weitgehend unbekannter Schauspieler*innen – muss auf ihre Weise damit zurechtkommen, dass die Tage des Dorfes in seiner herkömmlichen Form gezählt sind. Dabei gibt es keine guten und keine schlechten Menschen, sondern nur verschiedene Strategien für die Anpassung an die tiefgreifenden Veränderungen des Mikrokosmos Dorf. [Rainer Mende]

13.09. / 18:00 / Sputnik 
14.09. / 20:00 / fsk 
15.09. / 20:30 / Bundesplatz-Kino

@ Stowarzyszenie Filmowców Polskich

 



Titelfoto: "Imago" von Olga Chajdas