Das FilmFestival Cottbus ist eines der weltweit führenden Festivals, wenn es um das aktuelle Filmschaffen in Mittel- und Osteuropa geht. Vom 7. bis 12. November gibt es wieder drei Wettbewerbe und rund 150 Filme aus 40 Produktionsländern zu sehen. Viele Filme feiern in Cottbus ihre internationale, deutsche oder sogar weltweit erste Aufführung. Nach fast jedem Film gibt es spannende Gespräche mit den anwesenden Regisseur*innen, Produzent*innen und Schauspieler*innen. Eingebettet in das FFC findet vom 8. bis 10. November auch wieder der Co-Produktionsmarkt connecting cottbus statt, einer der ältesten und erfolgreichsten Koproduktionsmärkte Europas. In diesem Jahr feiert coco 25. Geburtstag. Im Zentrum des Festivals stehen drei Wettbewerbe. Von einer international besetzten Festivaljury wird der beste Spielfilm gekürt, außerdem die beste Regieleistung und die beste darstellerische Einzelleistung. Den besten Kurzfilm sowie den Spezialpreis in dieser Kategorie prämiert ebenfalls eine hochkarätig besetzte Jury. Ein Hauptpreis wird ebenfalls im U18 Wettbewerb Jugendfilm vergeben. Neben den Preisgeldern gibt es die begehrte gläserne „Lubina“, gleichermaßen Preisskulptur wie Symbol des FFC. Der sorbische Mädchenname bedeutet übersetzt „die Liebreizende“.
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Polnische Filme beim FilmFestival Cottbus 2023:
IMAGO/ Stale niestała
Olga Chajdas, PL/NL/CZ 2023, Spielfilm, 113 Min
Zwischen “Wind of Change” und “No Future”: Polen 1987, in den Straßen von Gdańsk protestiert die Solidarność, aber Ela interessiert sich nicht für Politik. Sie hat ihre eigenen Probleme. Sie schließt sich einer psychedelischen Punkband an und wird zum Star der Underground-Szene. Ein beeindruckendes Porträt, das sowohl den Zeitgeist der späten 1980er-Jahre als auch den ewigen Kampf einer Frau um das Recht, sie selbst zu sein, einfängt.
Der Name von Lech Walęsa, dem Führer der Solidarność-Bewegung, wird nur einmal erwähnt. „Lasst sie spielen, die politischen Jungs“, sagt Ela zu ihren Zimmergenossen in der Psychiatrie, als sie plötzlich anfangen, über die Nachrichten zu diskutieren. IMAGO beruht auf einer realen Geschichte, die Co-Autorin und Hauptdarstellerin Lena Góra spielt ihre eigene Mutter. Ela Góra war Künstlerin und ein Star der Punk-Underground-Bühnen der baltischen „Dreistadt“ Gdańsk, Gdynia, Sopot. Doch sie hatte auch mit einer bipolaren Störung zu kämpfen und ging völlig unvorbereitet in ihre unerwartete Mutterschaft, aus der sich ihr Partner, ein extrovertierter Maler, kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes verabschiedet. Regisseurin Olga Chajdas nimmt die Zuschauer*innen mit auf eine psychedelische Reise in die Welt der Underground-Clubs, wo das Publikum in Trance zu einem neuen Song erstarrt, in verrauchte Bars und in beengte Wohnungen, in denen sich ganze Familien in völliger Lieblosigkeit zusammenkauern. Doch selbst, oder gerade wegen dieser Bedingungen gedeihen Kreativität und Freiheit, entgegen aller Widerstände.
APOKAWIXA/ IT CAME FROM THE WATER
Xawery Żuławski, PL 2022, 120 Min
Peace, Rave, Sex, jede Menge Drogen und die Rache der Natur: Der Neureichensohn Kamil lässt kurz nach Corona in der väterlichen Villa am Ostseestrand mal so richtig die Sau raus. Doch Papa macht seine Millionen mit der Verklappung von Giftstoffen im Meer – alle Badenden werden hier zum Dämon. Polens erster Zombie-Film ist ein furioser Popart-Fantasy-Öko-Komödien-Thriller.
Nach fast zwei Jahren im Lockdown muss es mal eine richtig große Party sein: Kamil lädt zum Mega-Event im väterlichen Palast, das Schloss ist aus dem 17. Jahrhundert, der Pool von heute. Doch der in der Ostsee verklappte Dünger lässt die Cyanobakterien wachsen, mit Folgen für alle, der hier ins Wasser gehen. So wird das Fest der Liebe nicht nur von einer Gruppe rechtsextremer Hooligans und dem örtlichen Klub-Mafiosi erschwert (er ist sauer, dass er an Kamils Party nicht mitverdient), sondern auch dadurch, dass schon bald alle Partygänger*innen zu Zombies werden. Bis auf sechs, die unter der Führung des cleveren Apokalyptikers Blitz, Grunge-Rocker und selbsternannter Hüter des Waldes, Menschen geblieben sind. Regisseur Xawery Żuławski hat sich mit seinen gekonnt ekklektizistischen filmischen Scheinehen zwischen Genre und Autorenfilm einen Namen gemacht, IT CAME FROM THE WATER ist eher kommerzielles Kino, wenn auch folgerichtig der abgedrehten Art.
LIVE/ Na żywo (WB Kurzfilm FFC 2023)
Mara Tamkovich, PL 2022, 13 Min
Während die Staatsmacht auf den Minsker Straßen gewaltvoll gegen die Protestierenden vorgeht, berichten zwei Journalistinnen live aus der Küche einer Privatwohnung. Doch die Zeit scheint gegen sie zu arbeiten.
AS IT WAS (WB Kurzfilm FFC 2023)
Damian Kocur/Anastasia Solonevych, PL/UA 2023, 15 Min
Nach einem Streit mit ihrem Freund fährt eine junge Frau nach Hause. Dort spielt sie Piano, feiert, spaziert durch den Sonnenaufgang. Alles scheint normal, aber nichts ist normal, denn zu Hause ist Kyjiw. Zarter Film über den Versuch eines Alltagslebens inmitten des Krieges.
SELF (WB Kurzfilm FFC 2023)
Konrad Kultys, PL 2023, 19 min
Ein junges Mädchen wird aus dem Krankenhaus entlassen – ihr Gesicht emotionslos, im Arm ein Neugeborenes. Während die Familie noch so tut, als wäre alles normal, schleicht sich bereits das Unbehagen in die Bilder und die Frage: Kann das gut gehen?
BROYS/ BRATY (Wettbewerb U18 Jugendfilm)
Marcin Filipowicz, PL 2022, Spielfilm 82 Min
Sinnsuche der Skateboard-Brüder im stylishen Schwarzweiß-Hipster-Look. Nach dem Tod der Mutter entgleitet Bartek und Filip langsam ihr Leben. Intime und raue Irrfahrt der Gefühle durch die Wirren des Erwachsenwerdens.
Filip ist siebzehn, aber immer noch das verträumte Skater-Kid von damals. Sein älterer Bruder Bartek will wegziehen, um endlich alleine zu leben. Ihr letzter gemeinsamer Sommer. Alles nicht so leicht, seitdem die Mutter gestorben ist. Die beiden versuchen noch immer, damit klarzukommen. Bartek ist ein Hitzkopf, trinkt und kifft. Filip ist schüchtern und sensibel. Dazu kommt ihr depressiver Vater und die Drogen. Und ein Mädchen, das beiden den Kopf verdreht. In hochästhetischen Schwarzweiß-Bildern gelingt Marcin Filipowicz ein feinfühliges und gleichzeitig hartes Porträt zweier gegensätzlicher Brüder, das von den letzten verwunschenen Tagen erzählt, bevor sich alles ändern wird. Eine Suche nach Identität und dem eigenen Platz in der Welt, in der Hubert Milkowski, Polens Pendant zu Timothée Chalamet, als Filip brilliert.
DANGEROUS GENTLEMEN/ NIEBEZPIECZNI DŻENTELMENI
Maciej Kawalski, PL 2022, Spielfilm, 107 Min
Zakopane, 1914. Der Arzt und Autor Tadeusz Boy-Żeleński erwacht nach einer durchzechten Nacht. An die Ereignisse der letzten Stunden kann er sich nicht erinnern, und dann wird auch noch eine Leiche auf dem Sofa gefunden. Eine rasante „Hangover“-Variante aus der Endphase der Belle Epoque zwischen Sittenbild, Klamauk und politischem Verwirrspiel, die anspielungsreich und intelligent polnische und damit europäische Geschichte auf die Schippe nimmt.
Tadeusz Boy-Żeleński, Witkacy, Joseph Conrad und Bronisław Malinowski stehen vor einem Rätsel: sie wissen nicht, wer der Tote in ihrem Wohnzimmer ist. Bald stellt sich heraus, es ist Marquis Boy, ein Schriftsteller mit französischem Pass, der einer Verwechslung zum Opfer fiel, seine Mörder hatten es eigentlich auf den Arzt Tadeusz Żeleński abgesehen. Die vier bekannten Persönlichkeiten der Bohème haben jedoch keine Zeit zu verlieren, denn die Polizei klopft bereits an der Tür. Was folgt, ist eine ereignisreicher Ritt durch die Berglandschaft der Tatra, inklusive Gastaufritte von Wladimir Lenin und Józef Piłsudski. Das „polnische Paris“ Zakopane entpuppt sich nun als Schauplatz einer riesigen Verschwörung, in die Künstler wie Politiker, Revolutionäre wie Gangster verwickelt sind. In seinem Debutfilm zeigt Maciej Kawalski Ikonen der polnischen Kultur und Politik in einem neuen Licht. Der Arzt, Vortragsreisende und Weltverbesserer Tadeusz „Boy“ Żeleński ist einer realen Figur aus der polnischen Kulturgeschichte entnommen, ebenso andere in die Handlung eingebundene Mitstreiter wie der Pianist Karol Szymanowski und der Schriftsteller Stanisław Ignacy Witkiewicz. Eine fesselnde Geschichte voller Witz und Abenteuer, dargeboten durch mitreißende schauspielerische Leistungen von prominenten Darstellern wie Tomasz Kot (Cold War) und Andrzej Seweryn (Im Sumpf, Różyczka).
THE HIDDEN WEB/ Ukryta sieć
Piotr Adamski, PL 2023, Spielfilm, 100 Min
Wenn die Jägerin zur Gejagten wird: Bei Recherche über den tödlichen Autounfall eines TV-Stars kommt eine Social Media-Journalistin einem Kinderporno-Ring auf die Spur. Schon bald erhält sie Droh-Mails, ein Sex-Post mit ihr geht viral. Packender Hardboiled-Thriller mit Adrenalin-Effekt, bei dem die Moral ständig die Seiten wechselt – wenn es sie jemals gab.
Judita hat Erfolg und will noch mehr davon. Genauso wie ihr Publikum hat sie ein Faible für Reißerisches und Flippiges. Vom Unfallort postet sie ein Bild des blutig entstellten Opfers – Anlass für dessen betuchte Familie und ihre Anwälte, Judita öffentlich anzugehen. Spätestens als ein privates Sexbildchen mit Judita im Netz auftaucht, steckt sie ausweglos in einer Schlammschlacht fest, in der sie ständig gezwungen ist, auf das nächste Investigations-Level zu klettern – sie weiß, dass sie es mit Profis zu tun hat. Bei ihren Recherchen merkt sie zu spät, dass sie jemandem in die Quere kommt, der ganz andere Intentionen hat. Regisseur Piotr Adamski machte 2019 mit seinem dystopischen Arthaus-Vorstadtportrait EASTERN (FFC 2020) auf sich aufmerksam, jetzt legt er noch eine kräftige Schippe Action drauf. THE HIDDEN WEB steht in der Tradition polnischer Mainstream-Filme, die reale politische und gesellschaftliche Skandale zwischen Abhöraffären, Korruption und Kindesmissbrauch mit dramaturgischem Verve, Star-Potenzial und gekonntem Genre-Handwerk kommerziell ausbeuten – und damit gleichzeitig die Doppelmoral des gegenwärtigen politischen Establishments in Polen herausfordern.
MAN OF IRON/Człowiek z żelaza/Der Mann aus Eisen (Filmreihe WAS VON GESCHICHT ÜBRIG BLEIBT)
Andrzej Wajda, PL 1981, 153 Min
Revolte und Verrat! Während an den Gdansker Werften die Arbeit ruht, bekommt ein abgehalfterter Journalist den Auftrag, belastendes Material gegen den Streikführer zu sammeln. Packendes Politdrama über die Entstehung der Solidarność-Bewegung.
Andrzej Wajda erkundet das Herz der polnischen Revolution von 1980, aus der die Solidarność-Bewegung hervorging. Inmitten des Streiks der Werftarbeiter in Danzig erhält der Journalist Winkel den brisanten Auftrag, eine Reportage über den Streikführer Maciej Tomczyk anzufertigen. Während der Journalist immer tiefer in Maciejs Geschichte eintaucht, entdeckt er eine komplexe Familiengeschichte und die feurige Seele des Widerstands. Wajda fängt nicht nur in die politischen und sozialen Umwälzungen Polens in dieser Zeit ein, sondern skizziert auch geschickt den moralischen Konflikt, mit dem sich Winkel konfrontiert sieht. Die Erkenntnis, dass seine Arbeit instrumentalisiert wird, um gegen Tomczyk zu intrigieren, lässt ihn am Sinn seiner Arbeit zweifeln. Denn er versteht ihn. Clever nutzte Andrzej Wajda die Ereignisse von 1980 und drehte große Teile des Films während der tatsächlichen Streiks. 1981 gab es dafür die Goldene Palme in Cannes.
March 68/ Marzec ’68 (Filmreihe WAS VON GESCHICHT ÜBRIG BLEIBT)
Krzysztof Lang, PL 2022, 122 Min
Eine Romeo-und-Julia-Geschichte vor dem Hintergrund studentischer Unruhen und staatlichem Antisemitismus im sozialistischen Polen des Jahres 1968. Hat eine junge Liebe zwischen Hetzkampagne, Bürgermiliz und Geheimdienst-Intrige eine Chance?
Als Janek Hania auf den Straßen des nächtlichen Warschaus davor rettet, von einem Auto überfahren zu werden, ist es Liebe auf den ersten Blick. Doch ihre Liebe steht unter keinem guten Stern. Hanias Vater, ein Arzt, wurde aus fadenscheinigen Gründen entlassen. Er ist Jude und damit Opfer der antisemitischen Hetzkampagne, die im Zuge des Sechstagekrieges in fast allen Ostblock-Staaten gegen den „Zionismus“ und den „israelischen Imperialismus“ gefahren wird. Ministerpräsident Wladysław Gomułka beschuldigt die in der Volksrepublik Polen verbliebenen Juden und Jüdinnen zudem, als Agent_innen Israels und des Westens die Strippenzieher*innen der studentischen Proteste zu sein, die nach der Absetzung von Adam Mickiewicz’ Theaterklassiker „Die Ahnenfeier“ („Dziady“) wegen „antisowjetischer Tendenzen“ im März 1968 ausbrechen. Janeks Vater ist wiederum als hohes Tier im Geheimdienst maßgeblich an Repression und Gewalt gegen die Demonstrant*innen beteiligt… Aus der Perspektive eines jungen Liebespaars erzählt Regisseur Krzysztof Lang, wie Überlebende von Shoah und Ghetto mit ihren Familien zur Emigration aus ihrem polnischen Heimatland gezwungen werden. Ein Film, der das Lebensgefühl junger Leute zwischen Partys, Jazz, Romantik und Aufbruchsstimmung schildert, das jedoch von der Willkür der Staatsmacht zerstört wird. Historische Archivaufnahmen von Warschau im Jahr 1968 ergänzen den Spielfilm, der ungeschönt ein dunkles Kapitel jüngerer polnischer Geschichte aufrollt.
Strajk – Die Heldin von Danzig/ Strajk – bohaterka z Gdańska (Filmreihe WAS VON GESCHICHT ÜBRIG BLEIBT)
Volker Schlöndorff, DE/PL 2006, 104 Min
Von der Werft zur Weltgeschichte. Packendes Biopic von Volker Schlöndorff. Eine Kranführerin lehnt sich gegen das sozialistische System Polens auf und wird zur heimlichen Legende, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihren Sohn.
In den rauchenden Hallen einer Danziger Werft ackert die alleinerziehende Mutter Agnieszka bis zur Erschöpfung. Ihr Fleiß bleibt nicht unbemerkt und sie wird mehrfach als „Heldin der Arbeit“ geehrt. Doch als sie Zeugin eines tödlichen Werksunfalls wird, kann sie nicht länger schweigen und wird zur Stimme der Entrüsteten und zur Zielscheibe übler Repressalien. Mit unerschütterlichem Mut konfrontiert Agnieszka die Betriebsleitung und fordert bessere Arbeitsbedingungen, während eine aufkeimende Streikbewegung bald das ganze Land erfasst. Brillant verkörpert Katharina Thalbach die leidenschaftlich unerschrockene Agnieszka, die sich trotz aller Widrigkeiten niemals unterkriegen lässt. Schlöndorffs STRAJK – DIE HELDIN VON DANZIG entfaltet sich als tief bewegende Chronik über den unerschütterlichen Willen einer Frau und eines Volkes, das sich gegen die Unterdrückung eines korrupten Systems und für Gerechtigkeit auflehnt und so eine neue Ära ins Rollen bringt.
POLSKIE HORIZONTY: DER WEIBLICHE BLICK
In den letzten Jahren machten in der internationalen Festivallandschaft verstärkt Filme von weiblichen Regisseurinnen aus Polen von sich Reden und auch die zunehmende Anzahl nationaler Auszeichnungen für Produktionen polnischer Regisseurinnen zeugt von einem positiven Trend in der gesamten Branche. Dennoch ist der Kampf weiblicher Filmschaffender um Förderung und Anerkennung weiterhin von zahlreichen und unterschiedlich motivierten Hindernissen bestimmt. Das FFC zeigt beispielhaft eine Auswahl ganz unterschiedlicher Filme polnischer Regisseurinnen, in deren Zentrum denn auch meist weibliche Identifikationsfiguren stehen; mit dabei alle drei Filme von Agnieszka Smoczyńska. Mit IMAGO, dem neuen Film von Olga Chajdas, ist übrigens ein bemerkenswerter und ungewöhnlicher Film einer weiteren renommierten polnischen Regisseurin im diesjährigen FFC-Wettbewerb zu sehen. Die Reihe wird unterstützt von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
AUTUMN GIRL Bo we mnie jest seks
Katarzyna Klimkiewicz, PL 2021, 105 Min.
Polen in den 1960er-Jahren. Kalina Jędrusik gilt als die „Marylin Monroe Polens“ – Diva und Sex-Symbol, Femme fatale und Feministin. Eine Frau, die nach ihren eigenen Regeln lebte – und damit damit nicht nur die Gesellschaft, sondern auch den Staat herausforderte, bei Partei und Fernsehen aneckte. Als Musical inszenierte Emanzipationsgeschichte.
Katarzyna Klimkiewicz‘ Film setzt der frühen „Pop-Ikone“ ein Denkmal – und erzählt mit hohem Ausstattungs- und Unterhaltungswert einen Teil polnischer (Pop)-Geschichte aus einem persönlichen Blickwinkel, der am Ende immer politischer wird. Mit ihrem Unabhängigkeitsdrang ist Jędrusik heute ein Vorbild für Frauen, die das machen, was normal ist: unabhängig sein. Eine Geschichte, die leider noch immer nicht aus der Zeit gefallen ist.
Fugue/ Fuga
Agnieszka Smoczyńska, PL/CZ/SUI 2018, 100 Min
Vor zwei Jahren war die brave Mutter aus der Gegend von Wroclaw plötzlich verschwunden und hatte sich ohne jegliche Erinnerung in Warschau neu erfunden. Als starke, selbstbewusste Frau hat sie sich durchs Leben geboxt, bis eine TV ‐Sendung ihre Identität offenlegt Nun ist sie zurück in den Armen ihrer Familie und könnte sich dort kaum fremder fühlen.
In dunklen Bildern und mit mutigem Sounddesign entblättert die Regisseurin das zerrissene Innere ihrer Hauptfigur, der sie stets dicht auf den Fersen bleibt. Dass diese nicht zwingend sympathisch, aber stets nachvollziehbar bleibt, ist neben einem gekonnten Schnitt vor allem der grandiosen Leistung der Hauptdarstellerin zu verdanken, welche Blicke tief in die Seele ihrer Figur zulässt, ohne sie vollständig zu enträtseln. Der Film wurde mit dem Polnischen Filmpreis Orły (dt. Adler) in der Kategorie „Entdeckung des Jahres“ ausgezeichnet.
HELA
Anna Kasperska, PL 2022, 81 Min
Die rebellische Teenagerin Hela eckt überall an, weshalb sie schon wieder in einem Jugendheim gelandet ist. Dabei will sie eigentlich nur eins: sich um ihre kleine Schwester kümmern. Und deshalb ist sie aus diesem Heim auch schon wieder ausgebrochen. Eindrückliches Portrait einer jungen Frau zwischen Trotz und Verantwortungsgefühl, getragen von einer wunderbaren Hauptdarstellerin.
Die Vollwaisin Hela wird auf der Flucht aus dem Heim von zwei Cops erwischt und wieder eingefangen. Im neuen Heim wird sie von ihren Mitinsassinnen bösartig gemobbt und verprügelt. Die Ordensschwestern, die die Anstalt betreiben, haben mehr Interesse daran, dass ihre Institution funktioniert und dabei wenig Ärger macht, als daran, sich um ihre Schutzbefohlenen zu kümmern. Entsprechend hält sich auch das Mitleid mit Hela in engen Grenzen. Die flieht erneut und schafft es, ihre kleine Schwester Zuzia aus der Pflegefamilie zu entführen. Gemeinsam stellen die beiden fest, dass so ein Vagabundendasein auch nicht so toll ist.
ILLUSION/ Iluzja
Marta Minorowicz, PL 2022, 89 Min.
Hannas Tochter ist vor einigen Monaten spurlos verschwunden. Die Polizei ist ratlos, doch die Lehrerin gibt die Suche nach ihrem Kind nicht auf, hofft, bangt, verzweifelt und sucht sich Hilfe im Übernatürlichen. Mit viel Talent für ausdrucksstarke Bilder erkundet Marta Minorowicz Seelenlandschaften unter der Käseglocke einer leisen Verzweiflung, deren Ton allmählich rauer wird – und immer tiefer eindringt in die Psychologie von Verschwörungstheorien.
Gedreht im Ostseeraum bei Gdynia, lotet der Film aus, wann Verzweiflung ins Irrationale kippt. Da die Polizei, so nimmt jedenfalls Hanna an, ihren Job nicht richtig macht, nimmt sie die Suche selber in die Hand. Die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen: lag da wirklich dieser Knopf vom Mantel ihrer Tochter? Wieviel Hoffnung können die Spinner geben, die immer wieder anrufen und behaupten, das verschwundene Mädchen mal hier, mal da gesehen zu haben? Will die Polizei ihr wirklich nicht helfen, oder einfach pünktlich in den
Feierabend? Und warum wird, schleichend, der Glaube an das Übernatürliche vom Trostpflaster zum Rettungsanker? Vielleicht ist Minorowicz‘ Beobachtung ja nicht nur auf eine Mutter anwendbar, die ihre Tochter verloren hat, sondern auch auf eine ganze Gesellschaft, die an Verzweiflungssymptomen leidet. Und sich die Fakten so hinbiegt, dass sie nicht mehr ein Weltbild stören, dass von dem Imperativ gebildet wird, dass doch alles „normal“ zu bleiben hat. Eine Illusion, die Hanna an den Rand der Schizophrenie führt.
SHREDS/ Strzępy
Beata Dzianowicz, PL 2022, 98 Min
Ein Familiendrama im Wandel der Jahreszeiten. Im Winter gehen der Ingenieur und Universitätsprofessor Gerard und sein Sohn Adam noch gemeinsam zum Jagen. Im Frühling hat der Vater bereits Alzheimer und verliert zunehmend den Sinn für die Realität. Beklemmende Etüde über das schwierige Zusammenleben, wenn eine unheilbare Krankheit alles andere dominiert und das Leben der ganzen Familie auf den Kopf stellt.
Der zweite Spielfilm der Dokumentarfilmregisseurin Beata Dzianowicz führt in eine schlesische Kleinstadt zur Familie der Pateroks, die alle zusammen in einer Wohnung leben. Die Stimmung unter den drei Generationen ist heiter und liebevoll. Bis bei dem etwa 60-jährigen Gerard Alzheimer ausbricht. Er legt plötzlich seine Spiegelreflexkamera in die Spülmaschine oder uriniert vor seinen Student*innen während einer Vorlesung in einen Blumentopf. Bald wird er zunehmend zu einer Herausforderung für das Familienleben. Adam interessiert sich fast manisch nur noch für seinen Vater und setzt dafür auch seine eigene Ehe und das Verhältnis zu seiner Tochter aufs Spiel. Gerard selbst wird immer mehr zu einer Gefahr für alle. Dzianowicz interessiert sich in SHREDS weniger für die Krankheit Alzheimer, als für die Auswirkungen auf ein bisher intaktes Familienleben. Ein Film mit therapeutischem Wiedererkennungswert für alle, die solche oder ähnliche Situationen hinter sich haben oder gerade durchmachen.
SILENT LAND/ Cicha ziemia (#FEATURE #DRAMA #DIVERSITY)
Aga Woszczyńska, PL/IT 2021, 113 Min
Urlaub mit Hindernissen: Anna und Adam, gutaussehend, smart, erfolgreich, haben eine Luxusvilla in Italien gebucht. Doch der Pool ist ohne Wasser, der Ventilator funktioniert nicht, und zwischen den beiden knirscht es. Als dann vor der Haustür noch ein Unfall passiert, lässt sich die emotionale Kontrolle nur noch mit äußerster Disziplin aufrechterhalten.
Die Stimmung ist also eh schon distanziert. Der Pool wird von einem illegalen Arbeitsmigranten aus Nordafrika repariert, der bei den Arbeiten ums Leben kommt. Wer trägt die Verantwortung? Der Vermieter schaltet auf Durchzug, die Polizei ist überfordert, Anna und Adam entscheiden sich, den Vorfall zu ignorieren, doch natürlich ist das nicht möglich. Messerscharf inszenierter Konzeptfilm über Verantwortung und das Wegducken vor Verantwortung, schlechte Kommunikation, Vorurteile und das arrogante Verhältnis zwischen Nord und Süd.
The Lure / Córki dancingu/ Sirenengesang
Agnieszka Smoczyńska, PL 2015, 92 Min
„Zieht uns heraus / Fürchtet euch nicht / Wir werden euch schon nicht auffressen!“ Mit diesem Gesang lenken zwei Nixen die Aufmerksamkeit einer feiernden Gesellschaft an der Weichsel auf sich. An Land gezogen, finden sie sich mitten in der bonbonbunten Welt der Achtzigerjahre wieder. In einem Tanzclub sollen sie als neue Bühnenattraktion die Kassen klingeln lassen, doch die Gestalten aus dem Fluss lassen sich nicht domestizieren.
Mit ihrem Debüt als Regisseurin und Drehbuchautorin hat Smoczyńska im Handumdrehen das Publikum erobert, aber auch irritiert und überfordert. Das wilde Genre-Crossover aus Musical, romantischer Komödie, modernem Märchen, Ostalgie-Trip, Trash und Horror lässt viele Interpretationsmöglichkeiten zu – von einer Sozialstudie der späten Volksrepublik kurz vor ihrem Untergang über eine Allegorie auf das ungezügelte Weibliche bis hin zu einer alternativen Geschichte der Warschauer Wappenfigur, der bewaffneten Seejungfer.
The Silent Twins
Agnieszka Smoczyńska, PL/USA/GB 2022, 113 min
Die unzertrennlichen Zwillinge June und Jennifer Gibbons leben in den Siebzigerjahren mit ihren Eltern und Geschwistern in der walisischen Provinz. Die Familie kommt aus Barbados und die dunkelhäutigen Schülerinnen erleben den üblichen Alltagsrassismus, wachsen aber im Grunde behütet auf. Trotzdem passiert eines Tages das Unvorstellbare: Sie verstummen. Lehrer*innen, Ärzt*innen und Psycholog*innen mühen sich an ihnen ab, aber kein Wort kommt mehr über ihre Lippen. Einzelgespräche, Schulverweis, Hausunterricht – keine Maßnahme vermag es, sie wieder zum Sprechen zu bringen.
Doch hinter der Mauer des Schweigens verbirgt sich eine überbordende Fantasie. In den schützenden vier Wänden ihres kunterbunten Kinderzimmers entwerfen die Schwestern ihre eigene Welt aus Puppentheater, Radiosendungen, Liedern und Geschichten. Dort ist Sprache auch kein Hindernis, sie plaudern ununterbrochen miteinander – mehr noch, sie entwickeln literarische Ambitionen und beginnen, ihre Geschichten niederzuschreiben. Aus den Kindern werden Teenies, die sich von Abenteuern für ihre Texte inspirieren lassen – nicht immer in den Grenzen des Legalen und nach wie vor schweigend. Aus der Sicht der Gesellschaft sind solche Regelbrecherinnen nicht länger tragbar.
Agnieszka Smoczyńska versucht sich nicht an einer realistischen, historisch exakten Rekonstruktion der authentischen Geschichte, sondern lädt ein zu einer Achterbahnfahrt durch die Fantasie der Mädchen, die aus dem gesellschaftlichen Normkorsett ausbrechen. Mit übersprudelnden visuellen Einfällen, im Sound der Epoche und versetzt mit virtuosen Animationen von Barbara Rupik lernen wir das Paar vielleicht nicht zu verstehen, aber zumindest teilweise zu erfühlen. [Rainer Mende]
VIKA!
Agnieszka Zwiefka, PL/DE 2023, 74 Min.
Mit 84 Jahren ist Virginia „Vika“ Szmydt die älteste DJane Polens, wenn nicht Europas. Sie hält Vorträge in Altersheimen, legt bei Tanzabenden Rock’N’Roll und Swing auf und auf queeren Demos Techno. Doch die Suche nach der ewigen Jugend stößt spätestens dann an ihre Grenzen, wenn man alleine nicht mehr aus der Badewanne kommt.
Von ihren jugendlichen Klient*innen wird Vika als Ikone gefeiert, ist mitten drin im Leben und damit nicht nur in Seniorenwohnanlagen, sondern auch in Polens Subkultur angekommen, die für mehr Selbstbestimmung und weniger Tradition streitet – im Alter und anderswo. Doch wie sieht es dahinter aus? Vikas Sohn wirft ihr vor, zwar mit 30 Kilogramm Schallplatten durch halb Polen zu fahren, aber nicht um die Ecke, um sich sein Spiel in der Nationalmannschaft anzugucken. Zwischen Karriere und Kälte – auch Vika ist dieser Widerspruch bewusst, aber das Musikmachen macht einfach zu viel Spaß. Am 9.11. sind 15 Schüler aus Zielona Gora zu Besuch beim FilmFestival Cottbus.