Gegründet von Janusz Makuch und Krzysztof Gierat präsentiert das Festival seit 1988 eine weitgehend rebellische Minderheit jüdischer KünstlerInnen, die klug und mutig aus der Vergangenheit schöpfen und ein neues Kapitel einer der ältesten und interessantesten Kulturen der Welt aufschlagen. Das JCF (Jewish Culture Festival) beweist, dass Tradition und Avantgarde, Geschichte und Moderne, Dogmatismus und Ketzerei nebeneinander existieren können, ohne jeglichen kulturellen Fortschritt zu verhindern.
Wasser war Leitgedanke und Ausgangspunkt des diesjährigen Programms. Wie am Rand von Licht und Finsternis wurde eine Grenze rund um die Wasser gezogen (Ijob 26:10), so präsentierte sich das Programm zwischen Sacrum und Profanum in zahlreichen Bedeutungen vom Wasser in jüdischer Kultur und Geschichte: Im ritualen und religiösen Kontext sowie z.B. im Rahmen der Kunstintervention „MAISEH“ (Jiddisch: Erzählung) setzte sich das Performance High Waters von Bartłomiej Bryl und Lolita Igorivna Wrzeczyńska mit einer Legende auseinander, wo der Schatz vom Wasser getragen wird.
Indem Flüsse die Sedimente der Länder tragen, durch die sie fließen, werden sie zu Archiven. Sie erzählen viele Geschichten, verbinden Menschen über Grenzen hinweg. Durch die Einheit der Gewässer werden unsere Geschichten an den Ufern gesammelt und schließlich durch die Strömung weitergegeben.
Dabei wurde ein historisches Ereignis kontextualisiert, bei dem 1939 die wertvollsten Schätze des Königsschlosses Wawel auf einem Holzfloß die Weichsel hinunter getrieben und somit gerettet wurden. Die Säule vom Jerusalem-Tempel schwebte die Weichsel hinunter zur Alten Synagoge in Krakau.
Im Jüdischen Museum Galicja wurde ein umfangreiches Nebenprogramm angeboten. Besuchenswert ist die permanente Fotoausstellung „Traces of Memory: a contemporary look at the Jewish past in Poland“ von Chris Schwarz und Jonathan Webber, die die jüdische Vergangenheit Polens aus einer zeitgenössischen Perspektive zu betrachten versucht. Die Lebensorte der jüdischen Diaspora, Synagogen und die teilweise erhaltenen jüdischen Gebäude in Polen, die heute einem ganz anderen Zweck dienen, werden kritisch analysiert. Die Spuren des ehemals großen Teils der Bevölkerung polnischer Städte verschwinden von der Bildfläche und aus unserem Bewusstsein. Eine Mesusa an der Tür, von der nur ein Loch im Türrahmen geblieben ist, ein Möbelsalon im Gebetshaus oder dreisprachige Mazewas am verlassenen Friedhof werfen jedoch einen Schatten auf unser Alltagsleben und bringen uns dazu, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Musik ist ein weltweit anerkanntes Qualitätsmerkmal des Festivals – der Trompeter Frank London, GRAMMY-Gewinner und einer der anerkanntesten US-Amerikanischen Jazzmusiker war der diesjährige Superstar. Zusammen mit einem anderen GRAMMY-Gewinner, dem Tenor Karim Sulayman, der ukrainisch-jüdischen Sängerin Svetlana Kundish, und dem Ensemble präsentierte er sein neues Projekt Ghetto Songs. Eine Reise, die im 16. Jahrhundert in Venedig ihren Ursprung nimmt, führt uns durch die Krakauer und Warschauer Ghettos bis hin zu den brasilianischen Favelas. Ein stilistisch kompliziertes Programm, das viel Können und mehrere Aufführungsarten erfordert. Die SängerInnen, insbesondere Svetlana Kundish, und das Ensemble zeigten sich als versatile KünstlerInnen, die sowohl Hasidic New Wave sowie den Stil des frühbarocken Venedigs, nahezu Monteverdi-artig, auf ihren modernen E-Instrumenten wunderbar interpretieren konnten und eine Brücke zwischen der Vergangenheit und Moderne schufen. Anders war es bei Frank London, deren charakteristischer und einzigartiger Stil, für den er auch bekannt ist, während des ganzen Programms präsent war. Leider, oder für manche zum Glück, blieb er noch immer Frank London im „barocken“ Repertoire und nicht ein Venediger Trompeter aus dem Viertel Cannaregio. Etwas mehr interpretatorische Abwechslung hätte dabei sicherlich nicht geschadet.
Beim JCF wurden alljährliche Kantorenkonzerte bereits zur Tradition. Heuer wurde der Fokus auf die Brooklyner Szene gelegt, wo in den Gemeinden Williamsburg und Borough Park junge chassidische Musik ihre Wiederbelebung feiert. Eine kleine, doch dynamische Gruppe junger Kantoren (Yaakov Lemmer, Shimi Miller, Yoel Kohn) erweckt den Stil der Kantorenmusik der Vorkriegszeit zum Leben. Ihr Repertoire umfasste Werke, die vor fast einem Jahrhundert aufgenommen wurden. Die Künstler tauchten in die für viele als nicht offen für Selbstausdruck scheinende Vergangenheit der orthodoxen Welt ein, um ihren eigenen Stil zu erforschen. Das Konzert wurde aufgenommen und als Vinyl-Platte mit dem Titel „Golden Ages: Brooklyn cantorial revival today“ vom Festival herausgegeben.
Zum Hauptort des musikalischen Geschehens wurde die Tempel-Synagoge, gebaut um 1860 im maurischen Stil nach Plänen von Ignacy Hercok entlang der Miodowa-Straße. Interessanterweise diente der Wiener Leopoldstädter Tempel als Vorbild für den Architekten. Wundervoll restauriert und beeindruckend beleuchtet versammelte sie das fast aus allen Nähten platzende Festivalpublikum, denn über die BesucherInnenzahl kann sich das Festival nicht beschweren. Die Holzkassetten mit ihren prächtigen Polychromien lassen erahnen, die Akustik der Synagoge müsse an und für sich auf sehr hohem Niveau sein. Leider wurde die übliche Tendenz, die Lautstärke extrem aufzudrehen, auch hier oft beibehalten.
Das abschließende Konzert von Liraz war ein Meilenstein in der Geschichte des Festivals: Es war nicht nur, nach Meinung vieler, das beste Konzert diesjähriger Auflage, sondern es hatte auch eine symbolische Bedeutung. Dennoch erfüllte es das Ziel und Motto des JCF, denen das Festivalteam unter der Leitung von Janusz Makuch seit Jahren folgt: Grenzen der Vorurteile zu überschreiten und ein Zeichen der Liebe gegen Hass, Rassismus und Ausgrenzung zu setzen. Liraz ist eine der beliebtesten Künstlerinnen der zeitgenössischen israelischen Musik- und Filmszene. Ihre Familie kam aus dem Iran nach Israel. Erinnerung und Verbundenheit mit dem Herkunftsland sind für sie sehr wichtig – so sehr, dass Liraz, die in Israel lebt, zur Stimme der iranischen Frauen wurde, die infolge der religiösen Revolution ihrer Stimme, Geschichte und Identitäten beraubt worden sind. Während des Konzerts waren in ihrem Ensemble noch zwei MusikerInnen aus dem Iran, die anonym und unter Lebensgefahr in der Krakauer Tempel-Synagoge mit ihr aufgetreten sind. Ein berührender und wichtiger Moment, der vielen Tränen in die Augen trieb.
Als Katharsis wirkte ihr Konzert, um es eine Stunde später nochmal krachen zu lassen: Mit Eyal Talmudi, dem israelischen Saxophonisten und seiner Formation Malox & Friends (Frank London, Maniucha Bikont, Jeremiah Lockwood, Kacper Grzanka, Maciej Prokopowicz, Kuba Lewicki), die bereits drei Mal in jeweils vollgepacktem Klub Alchemia spielten, wurde noch einmal ordentlich abgetanzt. Wie Eyal es schafft, mit seinem Saxophon zu springen, hocken, sich drehen und dabei makellos zu spielen, bleibt ein Geheimnis des Festivals. Hauptsache, er hat das Publikum einfach umgehauen.
Last but not least, es gibt kein JFC ohne das jüdische Viertel Kazimierz. Diese Stadt in der Stadt existiert wie ein unabhängiger Organismus voller Leben und Freude. Entlang der Joseph-Straße (Ulica Józefa) breiten sich unzählige kleine Läden mit Kunsthandwerk, Bars, Restaurants und dekadente Vintage-Secondhands, wo weiß Gott was alles gibt. Einige der besten Krakauer Essensadressen sind ebenso in unmittelbarer Nähe. All dies umgeben von alten Synagogen, ehemals jüdischen Zinshäusern, Friedhöfen und Museen. Wer also dynamische, lebhafte Orte mit Geschichte mag, wird sich in Kazimierz zu Hause fühlen. Jedenfalls wäre es keine schlechte Idee, die nächste Auflage des Festivals 2023 im Auge zu behalten!
Es bleibt uns nichts anderes übrig als den Organisatoren zu gratulieren und einen wohl verdienten Urlaub zu wünschen!
Text: Maciej Łyczek