23.04.2020 - 30.04.2020 Aktuelles, Andere

Europa des neuen Gleichgewichts

23.04.2020 – 30.04.2020

Wir empfehlen Ihnen den heutigen Artikel des polnischen Premierministers Mateusz Morawiecki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über wirtschaftliche Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Krise.

„Wir können nichts dafür und sind doch verantwortlich ” – hat einst Hermann Hesse geschrieben. Heute messen wir uns mit der größten Krise der öffentlichen Gesundheit, der sozialen und wirtschaftlichen Krise der letzten Jahrzehnte. Wenn auch niemand den Ausbruch der Pandemie voraussagen und verhindern konnte, sind ihre langfristigen Folgen im großen Maße von uns abhängig.

Die Wirtschaftsexperten verweisen darauf, dass China vor der größten wirtschaftlichen Verlangsamung seit mehreren Jahrzehnten steht und in den Vereinigten Staaten die Arbeitslosenquote sogar 20% erreichen kann. Die größten Wirtschaftsländer der Welt wollen in Rahmen ihrer Fiskalpakete 4,8 Billion Dollar für den Kampf mit COVID-19-Folgen ausgeben. Es sind fast dreifach höhere Beträge als diejenigen aus den Zeiten der Finanzkrise 2007-2009.

Daher brauchen wir heute das Europa die Solidarität mehr als je zuvor zeigt – mit einem ambitionierten Budget und einem neuen wiederhergestellten Gleichgewicht. Die Funktion der EU muss von der Ambition nach einer solidarischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zum Schutz des integrierten europäischen Markts angetrieben werden.

Wir müssen uns bewusst sein, dass die Entscheidungen, die wir heute treffen, existenziellen Charakter haben. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um die europäischen Träume, Pläne und Ambitionen zu retten. Es ist eine unglaublich schwere Aufgabe, denn sie fordert nach gleichzeitigem Handeln auf vielen Ebenen. . Die Wirtschaft und das Gesundheitswesen brauchen jetzt dringend einen Rettungsplan. Bereits heute sollen wir die wichtigsten Grundsätze des neuen europäischen Gleichgewichts zeichnen.

Schlüsselkriterium

Die Coronavirus-Pandemie hat uns die Zerbrechlichkeit unserer sozialwirtschaftlichen Ordnung brutal verdeutlicht. Sie zeigte uns, wie Europa z.B. von den Lieferketten aus anderen Kontinenten abhängig ist. Auf der Suche nach Ersparnissen und zum Senken der Herstellungskosten haben zahlreiche europäische Unternehmen ihre Fertigungsprozesse in asiatische Billigregionen verlegt und dadurch die einheimischen Beschaffungsquellen vernachlässigt. Was uns heute als Tücke erscheint, hat die finanzielle Disziplin, die die Europäische Kommission verfolgte, die Mitgliedsstaaten zu schweren Entscheidungen gezwungen, die öfters zum Senken von öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen führten. Es ist aber nicht der Grund dafür, mit uns Mitleid zu haben, sondern um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Zum ersten Grundsatz des neuen europäischen Gleichgewichts sollte heute der Wiederaufbau der Wirkungsfähigkeit gegen derartige Sammelkrisen werden. Europa braucht ein umfassendes Maßnahmenpaket zur wirtschaftlichen Wiederbelebung und Stimulierung der europäischen Ökonomie. Notwendig ist unsere gemeinsame Einwilligung in eine ambitionierte Form des mehrjährigen Finanzrahmens und die Erhöhung der Eigenmittel, der EU-Erträge. Nur so können wir das Gleichgewicht, das infolge von internen Antagonismen und gegenseitigen Animositäten verloren gegangen ist, wiederfinden.

Wir wissen zu schätzen, dass die EU ihren Mitgliedern die Voraussetzungen für die Krisenbekämpfung erleichterte – sie richtete Instrumenten zur Gewährleistung von Darlehen und mehr flexible Nutzungsmodalitäten Europäischer Fonds ein. Auch das Vergaberecht von öffentlichen Beihilfen in Mitgliedsstaaten wurde erleichtert und die Regelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts zeitweise eingestellt. Die Mitgliedstaaten, der eine schneller, der andere später, haben damit begonnen, Arbeitsplätze und die Wirtschaft im Rahmen ihrer nationalen Haushalte zu retten. Aber damit Europa wieder zu Wachstum und Glanz zurückfindet, müssen wir gemeinsam mehr tun.

Zeitgemäß geschneidertes Budget

Wir müssen heute die Angst vor einem ambitionierten Budget loswerden. Angesichts der jetzigen Krise die effektivste Form der EU-Beihilfen werden die für die Kohäsions- und Landwirtschaftspolitik dedizierten Mittel darstellen. Allein die Verschiebung der Mittel im Rahmen bestehender Beträge ist jedoch nur ein Ersatz der kurzfristigen Überlebensstrategie. Europa braucht aber eine Wiederaufbaustrategie seiner Position.

Die Union soll ganz neue Finanzmittel (vielleicht im Rahmen des Fonds „Recovery”) für die Bekämpfung der wirtschaftlichen Pandemiefolgen bereitstellen. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass sich die Austerity-Strategie – der Sparkurs während der Krise 2007-2013 – nicht bewährt hat.

Wir haben immer noch den Komfort, neue Finanzierungsquellen zu nennen. Die Einführung der Finanztransaktionssteuer (FTT), der Digitalsteuer, der Steuer vom Import des CO2-Fuβabdrucks aus Drittländern oder Single Market Fee (Binnenmarkt-Gebühr) würde eine wertvolle Quelle eigener Erträge für die EU darstellen.

Weitere, immer noch nicht aufgelöste Aufgabe ist die Einschränkung der Steuerhinterziehungen. Die EU-Länder verlieren jährlich mindestens 200 Mrd. Euro aufgrund vom grenzüberschreitenden Missbrauch der Steuersysteme (Mehrwertsteuer, Körperschaftssteuer, Graumarkt). Es ist mehr als der EU-Haushalt für dieses Jahr. Die europäische Staatsräson ist die Abschaffung der Steuerparadiese. Das sind enorme Reserven, die das finanzielle Potenzial Europas zeigen. Hier und jetzt müssen wir das Geld finden, um stark in Innovation, Infrastruktur und den Wiederaufbau vieler Glieder der Produktionskette in Europa zu investieren.

Die Vorsitzende der Europäischen Kommission hat kürzlich festgestellt, „Europa hat in den letzten vier Wochen mehr unternommen als in den ersten vier Jahren der letzten Krise”. Es ist wahr. Die Gemeinschaft bietet heute die Stirn den präzedenzlosen Herausforderungen. Aber dies ist immer noch der erste Kilometer des Marathons, der auf uns wartet. Die Art und Weise, wie wir mit den Folgen der Pandemie zurechtkommen, wird die EU neudefinieren. „Die Zukunft beginnt heute, nicht morgen” pflegte der Johannes Paul II. zu sagen. Die Zeit unseres Handelns ist jetzt.


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