11.10.2022 PressPOLSKA

Über die polnische Romantik

Begleittext zur Ausstellung "The Romantic"

Das Jahr der Polnischen Romantik wird zum 200-jährigen Jubiläum der ersten Ausgabe der Balladen und Romanzen von Adam Mickiewicz gefeiert. Aus diesem Anlass führt das Adam-Mickiewicz-Institut Projekte auf der ganzen Welt durch, um zu zeigen, wie die polnische Romantik zu einem Vehikel der Moderne wird.

Als Balladen und Romanzen 1822 veröffentlicht wurden, trat eine als Wert betrachtete und verstandene Lokalität in die polnische Kultur ein. Mit der lokalen, provinziellen Landschaft ist ein Geheimnis verbunden, das als tiefere Wahrheit über die Wirklichkeit verstanden wird. Eine Welt, die nur mit unseren Sinnen wahrgenommen werden kann. Die Bühne betreten neue Helden, neue, unbekannte Stimmen, Charaktere mit der Fähigkeit, Dinge zu sehen, die für das Auge unzugänglich sind, mit dem „inneren Auge“ gespürt und wahrgenommen werden, was einen Einblick in eine tiefere Wirklichkeit, in die Spiritualität, ermöglicht. Diese slawische Spiritualität betritt mit all ihrer Kraft – vor allem dank Mickiewicz – auch die Weltbühne. Die Polemik mit der aufklärerischen rational mit „Auge und Brille“ erfassten Welt erfolgt in Form einer kategorischen Ablehnung der Weltanschauung des 18. Jahrhunderts (Metapher der Welt als Uhr) zugunsten der Einschätzung der außergewöhnlichen Erscheinungen an, die aus der alltäglichen Routine ausbrechen. Die Romantiker haben einen neuen Weg geebnet, um die verborgene Wahrheit zu enthüllen, indem sie die Welt sinnlich und emotional erfahren. Die Aufgabe bestand darin, die darin verborgene Bedeutung und Botschaft zu lesen.

„Wenn das Auge der gegenüberliegenden Ufer nicht reicht,
Den Boden von der Spitze nicht unterscheidet:
Scheinst du mitten im Himmel zu hängen
In einem blauen Abgrund.“ (Fragm. Świteź)

Am Ufer des Flusses Świteź verliert man die Gewissheit über den Status der beobachteten Welt. Das Wesen der Romantik liegt gerade im Glauben, dass die Welt zumindest zweideutig ist. Der Dualismus wird zu einem in Balladen … ausgelegten Weltprinzip, aber auch suggestiv im Gedicht Stunde des Gedankens von Juliusz Słowacki – „unter dem Auge der Erinnerung“, in dem das romantische „Ich“ in zwei Varianten, zwei möglichen Schicksalen gezeigt wird. Von nun an werden wir die Welt in Bewegung betrachten. Als Balladen und Romanzen entstanden, las Mickiewicz leidenschaftlich Metamorphosen von Ovid, und so ist es kein Wunder, dass er die Welt in Bewegung, in ständiger Veränderung beschrieb: der Fluss fließt heute und morgen trocknet er aus, das Mädchen ist mal so, mal so, das Gespenst tritt auf und verschwindet, die ortodoxe Kirche sinkt tiefer. Das Licht ändert sich, der Wind weht, es leuchten zwei Monde. Obwohl sich alles in unmittelbarer Nähe abspielt, kann es auch – wie Romantiker zum ersten Mal entdecken – vertraut und fremd zugleich sein. Das werden wir bei Ovid nicht finden. Bei Adam Mickiewicz – ja.

Die polnische Romantik hat die „Heimat“, die engste Umgebung, eingeführt und hervorgehoben, in der wir uns jedoch wiederfinden müssen, um in der Andersartigkeit das zu erkennen, was im Neuen zum Ausdruck kommt. Das Ufer von Świteź ist ein Ufer der Unendlichkeit. Wohin ein Romantiker auch geht, kehrt er immer wieder in seine Heimat, in die Familienlandschaft zurück. Mickiewicz wird sowohl in Träumen in Dresden, von einer Reise auf die Krim als auch in Briefen an Freunde in seine Heimatstadt zurückkehren. In den Pariser Vorlesungen erzählt er über die Geschichte des Slawentums und den slawischen Geist, indem er den europäischen Eliten mit Überzeugung beibringt, dass die heilende Mission in Zukunft von den Slawen durchgeführt wird. (Diese Auffassung findet man auch beim deutschen Philosophen Herder).

Ja, der Romantiker ist in der Provinz geboren. Doch anders als im 20. Jahrhundert war die Provinzialität der Romantiker geschätzt, sie vermittelte das Gefühl, „von irgendwoher“ zu kommen, aber vor allem versorgte sie die Vorstellungskraft mit Intuition, sie bestätigte den Glauben, dass die Realität flexibel ist. Aus der romantischen Provinz kommen Ambitionen, Träume und außergewöhnliche Helden.

„Die Provinz – schreibt Marta Piwińska in Schlechte Erziehung – war von Anfang an eine Schule des romantischen Unrealität”. Unter Verwendung der Terminologie von Agata Bielik-Robson, die in der romantischen Bewegung eine belebende Kraft des dialogischen Geistes sieht, kann man sagen, dass die Provinz zum Fundament einer neuen Rationalität wurde. Die Romantiker sind die letzte Generation, die die altertümlichen Werke liest. Nicht nur liest, sondern auch erforscht. Nach dem Vorbild der klassischen Tradition bauen polnische Romantiker eine neue Antike auf, indem sie nach Volksliedern, alten Liedern und Geschichten greifen. Sie sind die Wurzeln, die die polnische Nation (d.h. Republik Beider Nationen) prägen; sie verleihen einen Sinn der langen Dauer. Die Romantiker empfinden die Welt als ein literarisches Denkmal, und ihr Weltbild ist eine Art Hermeneutik.

Wenn wir heute nach einer Geschichte suchen, die uns erlaubt, uns in der Wirklichkeit wiederzufinden, können wir darin auch romantische Anklänge hören. Das Geheimnis der Romantik besteht darin, das, was als „Fiktion“ gilt, als „zweites Leben“ zu behandeln – sich der Geschichte mit aller Ernsthaftigkeit zu nähern. Heutzutage sind wir uns einig, dass das Erzählen zu einer Art der Orientierung in der Welt wird. Für Romantiker war es ein richtiges, entdecktes Leben. Ein Gebot. So leben, wie man schreibt. Die Romantiker führten dieses Motto ein und auch zu Ende gebracht. Sie setzen es in die Tat um. Dabei wird kein echter Romantiker sagen, dass es wirklich so und so war, denn er weiß ganz genau, dass „wirklich“ ja bedeutet, aber gleichzeitig ganz anders.

Die zeitgenössische Vorstellungskraft, die sich aus dem sinnlichen Gedächtnis schöpft, versucht auch, diese Dualität der Welt mit romantischem Ursprung zu erfassen, sich im Nicht-Offensichtlichen, Anderssein, in der Fremdheit wiederzufinden und wiederzuerkennen, die zu einer Gelegenheit werden, mehr zu sehen und zu verstehen. Die Frage nach der Aktualität der polnischen Romantik drückt sich am stärksten in der Frage aus, was die polnische Kultur der Welt zu bieten hat. Was bietet uns die individuelle Rezeption, die Wahrnehmung von Geschichte, Existenz zwischen Ost und West? Ausgehend von dieser Verschränkung zwischen Ost und West könnte man sagen, dass sie ein Verständnis von geografischen und historischen Erfahrungen ermöglicht, alternative Antworten zulässt, um Diagnosen zu stellen, die über das Verständnis von Phänomenen hinaus von der Ebene des kulturellen Zentrums aus verfügbar sind. In diesem Sinne wurde die polnische Romantik, die zusammen mit Balladen und Romanzen eine provinzielle Färbung auf die Bühne brachte, – in Anlehnung an bell hooks aus dem postkolonialen Diskurs – zu einem „Ort der radikalen Öffnung“. Ein Ort, an dem alternatives Denken entsteht. Wo die Weisheit der Grenze geboren wird.

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