11.11.2020 Geschichte & Diskussionen, News

Zum polnischen Unabhängigkeitstag am 11.11.2020

Wie unterschiedlich die Echos des Ersten Weltkriegs klingen?

Wie unterschiedlich die Echos des Ersten Weltkriegs klingen?            Von: Jan Rokita

In seinem berühmten Buch „The Sleepwalkers“ untersucht der britische Professor Christopher Clark die Ursache des Ersten Weltkriegs und stellt die Diagnose, dass es sich eher um eine Tragödie als um ein Verbrechen handelt. Der Große Krieg wurde von den im Titel erwähnten „Schlafwandlern“ ausgelöst, die des Maßstabes der historischen Katastrophe, die sie verursacht haben, nicht bewusst waren. Diese Katastrophe war nicht nur die Hekatombe der Opfer und das Ausmaß der Zerstörung, sondern vor allem der Zusammenbruch der europäischen politischen Ordnung, die von vielen bis heute als „schönes 19. Jahrhundert“ bewundert wird. Vor sechs Jahren, anlässlich des hunderten Jahrestages dieses Krieges, wurde Clarks Buch zur „politischen Bibel“ der Politiker und Intellektuellen, die mit Anerkennung schmatzend ihre Thesen auf unzähligen Konferenzen diskutierten und immer mit der gleichen Warnung vor der Wiederholung des „Schlafwandeln“-Präzedenzfalls endeten. Aus der Perspektive der westeuropäischen „la belle époque“, die durch diesen Krieg brutal unterbrochen wurde, kann man sagen, dass die Art der Erzählung, die Clark Europa diktierte, nicht nur logisch ist, sondern auch moralisch edelmütig ist. Jedoch springt einem Polen in dieser Erzählung in die Augen der radikale Unterschied der Erfahrung des 20. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa. Ein Unterschied, der für den heutigen Franzosen, Italiener oder sogar Deutschen wahrscheinlich schwer zu merken ist, geschweige denn zu akzeptieren.

Eine der berühmtesten Stellen in der polnischen Literatur, die seit der Schule jedem Polen in Erinnerung bleiben, ist ein Gebet aus der „Pilgerlitanei“ des größten polnischen Dichters Adam Mickiewicz: „Um den universellen Krieg um die Freiheit der Völker bitten wir Dich, o Herr!“ Dieser Passus wird als eine prophetische Ankündigung des Ausbruchs  des Krieges betrachtet, der den Polen nach über einem Jahrhundert Besatzung endlich die Freiheit und die Möglichkeit bringen wird, in ihrem eigenen Land zu leben. In dieser polnischen Narration ist das Jahr 1914 weder ein „Verbrechen“ noch eine „Tragödie“, sondern im Gegenteil – es ist ein historischer Vorbote der Freiheit, die vier Jahre später wiedererlangt wurde, als im unerwarteten Ergebnis dieses Krieges alle drei Kaiser, die das Land unterjochten, gestürzt sind: der deutsche, der russische und der österreichische.

Es war ein Schlüsselmoment für das polnische Verständnis der Welt und des eigenen Standorts darin. Der Kriegssieg Englands und Frankreichs ermöglichte es den Polen, die Freiheit wiederzugewinnen, und so wurden diese beiden Mächte als „freundlich“ und „verbündet“ im von Generation zu Generation weitergegebenen Kodex des polnischen politischen Selbstbewusstseins eingeschrieben. Das reicht aber nicht. Wie jedes Kind in Polen weiß, war dieser Sieg nur möglich, weil die Amerikaner zum ersten Mal in der Geschichte nach Europa kamen. Wenn sie es kurz darauf verließen, angeekelt von der Qualität der europäischen Politik, musste sich die Tragödie wiederholen. Der Zweite Weltkrieg wurde der offensichtlichste Beweis dafür. Und so wurde diese Überzeugung an die fast „magische“ Kraft der Präsenz der Amerikaner in Europa auch in die politische DNA kodiert, die die Identität der Polen prägt.

Der 1918 wiedergeborene polnische Staat konnte sich selbst nicht anders als einen Teil einer breiteren mitteleuropäischen Union vorstellen. Es war ein offensichtliches Echo der alten Zeiten, als die litauische Jagiellonen-Dynastie eine riesige Bundesmacht mit zwei Hauptstädten in Krakau und Wilna regierte. Zwar sah die polnische nationale Bewegung die neue polnische Staatlichkeit in anderen, eher ethnischen Kategorien, aber die Machtübernahme durch Józef Piłsudski (am Tag des historischen Waffenstillstands von Compiègne am 11. November 1918) bedeutete, dass nicht „Nationalisten“, sondern „Prometheisten“ die Mission des polnischen Staates nach dem Krieg bestimmt haben. Das militärische Bündnis mit den Ukrainern und Weißrussen, die sich ebenfalls von der russischen Herrschaft befreiten, dessen Ziel war, die Union in Mittel- und Osteuropa wiederherzustellen, brach unter dem Druck der Bolschewiki zusammen. Es gab gerade noch genug Kraft, um die gefährdete polnische Staatlichkeit gegen die Bolschewiki zu verteidigen, die im Sommer 1920 direkt vor Warschau standen. Es gab aber keine Kraft mehr, um die Idee der Union im Mittel- und Osteuropa zu erneuern. Obwohl die Union damals nicht entstanden ist und dieser Teil Europas bald ein Schlachtfeld für Nationalismen werden sollte, wurde diese Zeit gleich nach dem Ersten Weltkrieg wie ein Echo, das im letzten Jahrhundert bis heute in der polnischen Politik ständig widerhallt.

Es ist vor allem ein Echo der Träume von politischer Integration, die (was mit der Zeit offensichtlich wurde) nicht mehr partikulär im Mittel- und Osteuropa erstellt werden kann, sondern nur im Rahmen eines großen Integrationsprojekts für ganz Europa sich in diesem Gebiet verbreiten kann. Man muss es wissen, um die Begeisterung der Polen für ihren eigenen Beitritt zur Europäischen Union im 21. Jahrhundert zu verstehen, aber auch für ihre Erweiterung um die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und Georgien. Der eigentümliche „Transfer“ der Union in den Osten hat die politische Mission des heutigen polnischen Staates aufgebaut, und ohne sich dieser Tatsache bewusst zu sein, ist es unmöglich, die polnische Politik der letzten 25 Jahre zu verstehen.

Ein entferntes Echo dieser Zeit ist leider auch die starke Erinnerung in Polen daran, dass 1920 alle polnischen Pläne scheitern konnten und mit ihnen sogar die Existenz des polnischen Staates bedroht war. Die „verbündeten“ und „freundlichen“ europäischen Mächte, insbesondere England unter der Herrschaft von Lloyd George, standen paradoxerweise auf der Seite der Bolschewiki. Auf der Konferenz von Spa zwangen sie die polnische Regierung, die Hälfte ihres Territoriums an Sowjetrußland abzugeben, d.h. alles, was sich im 18. Jahrhundert die russischen Zaren gewaltsam angeeignet haben.

Nie wieder war es in Polen möglich, dieses unterbewusste Misstrauen gegenüber europäischen „Freunden“ zu beseitigen, dass im September 1939 noch verstärkt wurde und bis heute dauert. Das wiederkehrende Echo dieser Ereignisse führt jedoch auch zu einer besonderen polnischen Sensibilität für das Leiden und die Ablehnung von Ukrainern und Weißrussen durch Europa, d.h. der einzigen Nationen, die vor einem Jahrhundert zusammen mit Polen gegen die sowjetische Gefahr antraten. Jeder, der heute verstehen möchte, warum über eine Million ukrainischer Einwanderer, die hier mit offenen Armen aufgenommen wurden, in Polen leben und arbeiten, muss es bewusst sein. Auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Union strebt der polnische Premierminister (mit Erfolg) an, einen Plan zur umfassenden wirtschaftlichen Unterstützung Weißrusslands umzusetzen, wenn es seinen Bürgern gelingt, die dort vorherrschende Tyrannei zu beseitigen.

In seinem berühmten Buch hat Professor Clark bewiesen, dass die Echos dieses Großen Krieges in der zeitgenössischen Politik deutlich zu hören sind. Es ist wahr. Dennoch klingen die polnischen Echos etwas anders als die, die der große britische Historiker gehört hat.

Text veröffentlicht in der Monatszeitschrift Wszystko Co Najważniejsze (Polen) im Rahmen eines historischen Bildungsprojekts des Instituts für nationale Erinnerung

Jarosław SZAREK: Der unerschöpfliche polnische Geist

Seit 1795 ohne eigenen Staat haben wir, Polen, im 19. Jahrhundert nicht nur unsere nationale Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft erbaut, aber auch solchen Geisteszustand geschaffen, der mehrere in der Knechtschaft geborene Generationen angespornt hat, immer noch an das unabhängige Polen zu denken.

Im November 1918 hat viele Hauptstädte der Welt – von Washington bis Tokio – die telegraphische Nachricht aus Warschau erreicht, welche die Wiedergeburt der Republik Polen verkündete. Es wurde darin informiert, dass die polnische Regierung „die Gewaltherrschaft ersetzt hat, die hundert vierzig Jahre lang über dem Schicksal Polens lastete“.

Symbolisch wurde die Tatsache, dass diese Nachricht über die Auferstehung des unabhängigen Staates aus dem Ort gesendet wurde, welcher der Inbegriff der Fremdherrschaft war – der Warschauer Zitadelle, die von den Russen nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes 1830 gebaut wurde. Dort wurden diese Polen verhaftet und hingerichtet, die die Knechtschaft der Nation nicht akzeptieren konnten. Unter diesen Häftlingen war auch der Oberste Befehlshaber Józef Piłsudski, der die obengenannte Nachricht unterzeichnet hat.

„Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Souveränität Polens“ wurde möglich, weil die Polen zu diesem Wendepunkt schon bereit waren, die Strukturen eines unabhängigen Staates aufzubauen und über genug Kraft verfügten, um diesen Staat in den folgenden Jahren erfolgreich zu verteidigen. Seit fünf Generationen – ab 1795 – strebten sie dieses Ziel an, immer in der Anstrengung ausharrend, um den Traum von der unabhängigen Heimat zu verwirklichen.

Über ein Jahrhundert lang gab es Leute, die zu dieser Anstrengung bereit waren. Oft trugen diese Fahne nur wenige, die nicht nur mit den fremden Eroberern Kräfte messen mussten, aber auch mit den Landsleuten, die den Glauben an den Sieg verloren, gleichgültig wurden oder sogar die Nation verrieten. Wie oft während der Knechtschaft musste man den bitteren Geschmack der Niederlage überwinden, als alles zeigte, dass die Worte „finis Poloniae“ in Erfüllung gingen?

Bereits 1797 wurde unter den Soldaten-Auswanderern in Italien, die als erste in den an der Seite Napoleons und Frankreichs gebildeten polnischen Legionen kämpften, ein Lied entstanden, das Hoffnung brachte. Seine Worte „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben…“ – sind heute unsere Nationalhymne, und die nachfolgenden Worte „Was uns die fremde Übermacht genommen hat, holen wir uns mit dem Säbel zurück…“ bestimmten das Programm des bewaffneten Kampfes in nationalen Aufständen.

Die größten – im November 1830 und im Januar 1863 – richteten sich gegen Russland endeten mit den blutigen Repressionen, der Deportation von Tausenden der Aufständischen nach Sibirien, der Beschlagnahme von Eigentum, dem Verlust vieler Institutionen und Rechte und der Einführung einer brutalen Russifizierung.

Ununterbrochen überdauerte aber der polnische Geist in den Familien, in den Häusern, wo Mütter den Kindern das Vaterunser beibrachten und von alten, ruhmreichen Zeiten und stolzen Helden erzählten. Sie beteten zur „Heiligen Jungfrau, die den Tschenstochauer Kloster am Hellen Berg verteidigt und im Tor der Morgenröte in Wilna leuchtet“ und pilgerten zu diesen heiligen Stätten. Die Kirche unterstützte diesen Geist, und nie mangelte es an Priestern, die das Schicksal der Nation teilten, Schulen errichteten, den aufständischen Einheiten beitraten, um mit ihnen in Sibirien oder am Galgen zu enden.

Militärische Niederlagen und Repressionen leiteten die Polen zu anderen Aktivitäten. Sie suchten nach Möglichkeiten und hatten Erfolge in der Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung. Ihre Spuren finden wir heute an den Karten und in den wissenschaftlichen Publikationen. Nach diesen, die nach dem Januaraufstand 1863 nach Sibirien deportiert wurden, wurden Czerski-, Dybowski- und Ciechanowski-Gebirge genannt. Andererseits stoßen wir im fernen Chile fast überall auf die Erinnerung an Ignacy Domeyko – einen Auswanderer, der nach der Niederlage des Novemberaufstandes gezwungen war, seine Heimat zu verlassen.

Zu gleicher Zeit wurden in der Heimat Wirtschaftsverbände, Banken, landwirtschaftliche Unternehmen, Bibliotheken und wissenschaftliche Vereinigungen von oftmals ehemaligen Aufständischen gegründet. Es stellte sich heraus, dass sie trotz Repressionen den polnischen Landbesitz und das Netzwerk eigener Institutionen wirksam bewahrten. Es gab viele, die – auch im Dienst der Besatzungsmächte – für ihre Heimat arbeiteten.

Die nächsten Generationen ohne einen eigenen Staat fühlten sich nicht nur immer noch als Polen, sondern waren auch bereit, vieles für ihre Heimat zu opfern. Das Gedächtnis und die Kultur dauerten an, in ihnen drückte sich die der Unabhängigkeit beraubte Nation aus. Die herausragendsten Werke, die während der Besatzung entstanden sind, bilden immer noch den nationalen Kanon. Dazu gehören die Werke der großen romantischen Dichter, die im Ausland arbeiteten: Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und Zygmunt Krasiński. Über die Grenzen geschmuggelt, durch Zensur verboten, weckten sie die weiteren Generationen der Polen auf, genauso wie die erzpolnischen Werke des Komponisten und Pianisten Fryderyk Chopin, die aus der Sehnsucht nach Polen hervorgingen. Seine Musik berührt immer noch Millionen von Menschen auf der ganzen Welt.

Polen existierte nicht auf der Karte Europas, als Maria Curie-Skłodowska als erste Polin und erste Frau, die den Nobelpreis erhielt, das von ihr entdeckte Element als „Polonium“ bezeichnete und die „polnische“ Präsenz dauerhaft in das Periodensystem einschrieb. Zwei Jahre später – 1905 – wurde dem Autor von „Quo vadis?“ Henryk Sienkiewicz der Nobelpreis für Literatur verliehen. Damals war er der meistgelesene Schriftsteller von Russland bis nach USA. Während der Nobelpreisgala sprach er über seine Heimat: „Sie wurde für tot erklärt, und dies ist einer der tausenden Beweise dafür, dass sie lebt. Sie wurde für erobert erklärt, und hier ist ein neuer Beweis dafür, dass sie weiß, wie man gewinnt“. Im Geiste seiner „Trilogie“ – eines Romans, der die Kriege der Republik Polen mit den Türken, Schweden und Kosaken im 17. Jahrhundert beschreibt – wurde eine ganze polnische Armee erzogen, gegen welche die Besatzungsmächte mehrmals kämpfen mussten. Viele junge Leute, die im Ersten Weltkrieg den Legionen von Piłsudski oder der von den polnischen Auswanderern in den USA gebildeten Armee beitraten, hatten Bücher von Sienkiewicz in ihren Rucksäcken. Sie waren bereit, für Polen zu kämpfen und zu sterben, obwohl sogar ihre Großeltern es nie frei gesehen haben.

Polen war auch in den Gemälden der historischen Maler lebendig. Einer der originellsten, Jacek Malczewski, rief aus: „Malt so, dass Polen wieder auferstehen kann“. Ein Jahr nach dem Tod des beliebtesten von ihnen –Jan Matejko – wurde in Lemberg eine Ausstellung seiner Werke organisiert. Es war gerade der hundertste Jahrestag der Schlacht von Racławice im Jahr 1794. Dort siegte über die Russen die polnische Armee, unterstützt von Bauerntruppen, geführt von Tadeusz Kościuszko, dem Helden des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges.

In einer speziell erbauten Rotunde wurde ein monumentales Gemälde von Jan Styka und Wojciech Kossak gezeigt, das über hundert Meter lang ist und den siegreichen Kampf gegen die Russen darstellt. Unzählige Polen legten Hunderte Kilometer zurück, um es anzuschauen. Sie flüsterten in Bewunderung: „Es ist kein Bild, es ist eine Tat.“ Wir können nicht berechnen, wie viele von diesen Tausenden junger Menschen, oft aus fernen Dörfern, zu Polen wurden. Sie erschufen eine moderne Nation, eine Nation noch ohne eigenen Staat, aber wie reich an Kultur und Bräuchen. Dank ihnen nicht nur dauerte das Polentum an, aber zu Polen wurden auch die Enkelkinder dieser, die aus Nachbarländern kamen, um Polen zu germanisieren und zu russifizieren. Polen verführte sie mit ihrem „unerschöpflichen Geist“. Aus ihm ist die Tat des 11. November 1918 entstanden, die uns das unabhängige Polen gebracht hat.

Text veröffentlicht in der Monatszeitschrift Wszystko Co Najważniejsze (Polen) im Rahmen eines historischen Bildungsprojekts des Instituts für nationale Erinnerung

Zur Demokratie unter den Völkern Europas. Casus – Polen

AUTOR: Prof Wojciech ROSZKOWSKI

Werfen wir einen Blick auf die Europakarte nach dem Wiener Kongress 1815 und diese nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Wir sehen deutliche Veränderungen: in Mittel- und Osteuropa sind viele neue Staaten entstanden. In der polnischen Tradition ist der Unterschied zwischen dem „Entstehen“ des unabhängigen Polens im Jahr 1918 und seiner „Wiedergeburt“ sehr deutlich. Jemand, der den ersten Begriff verwendet, ignoriert die Bedeutung des Endes des Ersten Weltkriegs für Polen und sogar übersieht tausend Jahre früherer Geschichte Polens.

Diese Geschichte hatte viele dramatische Wendungen, und das 20. Jahrhundert war von besonderer Überhäufung dieser Dramen geprägt. Ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborener Pole hatte die Gelegenheit, sich an die Herrschaft der Besatzungsmächte – Österreich-Ungarn, Deutschland und Russland – zu gewöhnen, welche über 120 Jahre lang über polnische Länder herrschten. Er erlebte auch dann im November 1918 die Euphorie der Wiederbelebung des Staates, die Niederlage dieses Staates infolge der deutschen und sowjetischen Invasion im September 1939, den Wiederaufbau des Staates nach 1945 in Form eines totalitären Vasallen der Sowjetunion und schließlich den Zusammenbruch der kommunistischen Regierung und die Geburt eines neuen Polens, das demokratisch ist, obwohl es die Last des 20. Jahrhunderts trägt, mit der Last der Massenmorde, der Deportationen, der Übersiedlungen und der Enteignungen. Nach 1989 wird Polen wiedergeboren, aber die Polen entdecken ihre Identität nur mit Mühe.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts trägt das Polentum das Brandmal all dieser Dramen, und überrascht mit Eigenschaften, die Konsequenz sowohl dieser Dramen sind, als auch der Reaktionen auf diese. Das Schicksal Polens hing weitgehend von seinen mächtigen Nachbarn ab, die es nicht akzeptieren wollten. Aus diesem Grund standen Polen in ihrer Geschichte sehr oft vor einem Dilemma „kämpfen oder nicht kämpfen?“, aber auch „sich anpassen oder nicht?“ oder worin und wie man sich anpassen soll, um nicht unterzugehen. Die polnische Hymne beginnt mit den Worten: „Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben“. Das Dilemma bestand jedoch sehr oft darin, wie wir werden möchten, um zu überleben, und wie viel soll es kosten, um auf die eigene Art leben zu können.

Die Geschichte Polens ist ein Wissensschatz über das soziale und politische Leben. Aus der Geschichte der Adelsdemokratie der Ersten Polnischen Republik, d.h. des Staates vor den Teilungen des 18. Jahrhunderts, können die heutigen Demokratien lernen, wie schreckliche Kosten für ein Land entstehen können, in dem Freiheit nicht mit Verantwortung verbunden ist. Trotz der großen Anstrengungen der Reformer, die am 3. Mai 1791 die erste Verfassung in Europa verabschiedeten, teilten die Nachbarmächte unter sich die Erste Republik.

Aus der Geschichte der polnischen nationalen Aufstände des 19. Jahrhunderts lernt man Heldentum, Patriotismus, aber nicht Effektivität, Geopolitik und materielle Einschränkungen der eigenen Träume – aber doch die Überlebenskunst. Von der Wiedergeburt Polens nach 1918 kann man die außergewöhnliche Kunst der Improvisation lernen, und auch die Effektivität beim Aufbau der Grundlagen der Staatlichkeit fast von Grund auf. Zu den polnischen Erfolgen dieser Zeit gehörten beispielsweise die Währungsreform von Władysław Grabski, der Bau des zentralen Industriegebiets oder des Hafens in Gdynia. Aus der Niederlage von 1939 und der deutschen und sowjetischen Besatzung kann man die Kunst des Widerstands gegen die schrecklichsten Praktiken des Genozids lernen. Polen unter kommunistischer Herrschaft und in Friedenszeiten war eine höllische Erfahrung der Anpassung an das System trotz natürlicher Neigungen, aus der die Polen geistig schwer verletzt hervorgingen. Dank der zehn Millionen Mitglieder zählenden Solidarność-Bewegung und der Unterstützung des polnischen Papstes Johannes Paul II waren sie am Ende siegreich, womit sie die Fundamente der Teilung Europas zerbrachen.

Der Wiederaufbau des Staates nach 1989 war voll ungenützter Möglichkeiten, geprägt von der Abhängigkeit vom ausländischen Kapital und der postkommunistischen Eliten mit Vasallenmentalität, aber es ist gelungen, recht sicher in die Europäische Union einzutreten und die Sicherheit durch den Betritt zu NATO zu stärken, worüber fast alle Polen gleicher Meinung waren. Polen bleibt ein Land, das viele Gegner hat. Und doch haben im Frühjahr 2020 die polnischen Behörden und ihre nächsten südlichen Nachbarn die Ausbreitung der Coronavirus-Pandemie in dem Ausmaß verhindert, von dem hochentwickelte westliche Länder betroffen waren. In Polen, das von falschen Meinungen in den Gremien der Europäischen Union geplagt wird, wird die Mitgliedschaft allgemein nicht in Frage gestellt. Die Tatsache, dass das Gleichgewicht des Wirtschaftsumsatzes mit den EU-Ländern für Polen ungünstig ist, da der Export von Gewinnen ständig höher ist als die EU-Subventionen, macht keinen großen Eindruck. Darüber hinaus provoziert sinnloser EU-Druck eher Widerstand als Einschüchterung der Polen und stärkt den gesunden Menschenverstand in Bezug auf die politische Realität.

Trotz des Drucks und der Moden, die aus dem „progressiven“ Westen kommen, der selber eigene Probleme oft nicht merkt, binden traditionelle Werte immer noch die polnische Gesellschaft. Die Bindung an das Familienleben kann sich aus der Bedeutung familiärer Bindungen im ehemaligen Adelspolens und aus der Erinnerung an die Bedrohung der polnischen Familie unter den Teilungen sowie während des letzten Krieges und der Besetzung ergeben. Der Respekt für Frauen, der sich im alten Brauch ausdrückt, ihre Hand zu küssen, kommt aus der ziemlich unabhängigen Rolle der Frauen in der Ersten Republik und ihrer Bedeutung während der Teilungen und sogar unter der kommunistischen Herrschaft, als diese „polnische Mütter“ tapfer in den Warteschlangen kämpften, um das Haus zu versorgen. Die Liebe zur Freiheit ist in Polen besonders stark, wenn man berücksichtigt, wie lange den Polen diese Freiheit in den letzten zwei Jahrhunderten fehlte. Außerdem können die Polen stolz darauf sein, dass ihre ehemalige polnisch-litauische Republik eine Oase der Adelsdemokratie war. So war es in der Zeit, als nur sehr begrenzte Kreise der Aristokratie Einfluss auf die Regierungen westlicher Länder hatten.

Im Allgemeinen reagieren die Polen sehr lebhaft auf die Erhöhung oder Demütigung der polnischen Wesensart. Wenn sie kritische Bemerkungen hören, verteidigen sie sich heftig, aber wenn jemand eine übertriebene Apotheose des Polentums verkündet, beschweren sie sich über ihr Land. Dies beweist, dass sie ihre polnische Wesensart ernst nehmen, aber infolgedessen oft extreme Beurteilungen abgeben. Die Geschichte hat sie gelehrt, sich der Lüge zu widersetzen, die sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft zusammenhängt betrifft.

Text veröffentlicht in der Monatszeitschrift Wszystko Co Najważniejsze (Polen) im Rahmen eines historischen Bildungsprojekts des Instituts für nationale Erinnerung

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