Andrzej DUDA: Der Wert, der die Polen zusammenbringt
Im modernen Polnisch gibt es ein beliebtes Sprichwort: „etwas wie die Unabhängigkeit zu verteidigen“. Es bedeutet, eine klare und entschlossene Haltung für eine Idee oder einen Wert einzunehmen. Woher kommt dieser Ausdruck?
Die Antwort auf diese Frage liegt für jeden auf der Hand, der an den Feierlichkeiten zu unserem nationalen Unabhängigkeitstag am 11. November teilnehmen möchte. Was wir an diesem Tag feiern, sind genau die Werte, die Dutzende von Millionen Polen zusammenführen. Der Feiertag erinnert an den Enthusiasmus unserer Vorfahren, die 1918 nach 123 Jahren der Unterjochung endlich das erreicht haben, wofür sie gekämpft haben: die Rückkehr des unabhängigen Polens auf die politische Landkarte Europas. Es ist eine Erinnerung an ihren großen Erfolg, der uns bis heute mit Stolz und Freude erfüllt. Es ist auch ein Fest der Beharrlichkeit und des Optimismus, der belohnt wird, weil wir uns nicht einen Moment lang mit der Herrschaft dreier fremder, absolutistischer Reiche abgefunden hatten. Und schließlich ist es eine feierliche Erklärung, dass für uns ein eigenes, souveränes Land – ein gemeinsames Haus, das wir uns selbst einrichten können und das die beste Garantie für unsere Rechte und Freiheiten – von unschätzbarem Wert ist. Um diesen Wert zu verteidigen, sind wir bereit, das höchste Opfer zu bringen.
Das Ereignis, das den Beginn der Geschichte Polens markiert, ist die Taufe des Fürsten Mieszko I. im Jahr 966. Von diesem Moment an haben wir stets zur Entwicklung und Verteidigung der europäischen Familie freier Nationen beigetragen. Wir haben dies im Bewusstsein des reichen Erbes unserer Kultur, unserer eigenen Tradition des politischen Denkens und der Einzigartigkeit der polnischen Geschichte getan.
Aufgrund unserer Erfahrung der verlorenen und mühsam wiedergewonnenen Staatlichkeit betrachten wir uns selbst und die sich verändernde Welt vor allem durch das Prisma der Freiheit und der Solidarität. Wir erinnern uns daran, dass es diese beiden Ideale waren, die einst hinter der Geburt und dem Wachstum der europäischen Supermacht standen, die die Partnerunion zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen war. Wir sind davon überzeugt, dass sie auch die Bausteine für unsere prosperierende Zukunft und eine Voraussetzung für den Erfolg der zahlreichen Initiativen sind, die auf die Sicherung des Friedens und der Zusammenarbeit in Europa abzielen und an denen Polen beteiligt ist: Die Europäische Union, die Nordatlantikvertrags-Organisation sowie die regionalen Strukturen, die sie stützen, insbesondere die Drei-Meeres-Initiative und die Bukarester Neun.
Wir betrachten die Werte der Freiheit, der Solidarität und der Achtung des Rechts als grundlegend, untrennbar und komplementär. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die europäische Gemeinschaft nur auf dieser Grundlage die wachsende Zahl von Krisen bewältigen kann, mit denen sie heute konfrontiert ist. Der Zusammenbruch der globalen geopolitischen Ordnung, das neue, gefährliche Phänomen der hybriden Kriegsführung, die Energie-, Gesundheits- und Ernährungssicherheit, der Klimawandel, die Massenmigration, die Stärkung der Demokratie, um der Versuchung des technokratischen Elitismus zu entgehen, die Meinungsfreiheit im digitalen Zeitalter, die soziale Verantwortung internationaler Konzerne und Finanzunternehmen, der globale Wettlauf um neue Technologien, künstliche Intelligenz und die Erforschung des Weltraums – das ist das ganze Ausmaß der Herausforderungen und Umwälzungen, die für lange Zeit Europas Stellung in der Welt bestimmen werden. Wenn die Europäer sie bewältigen wollen, müssen sie gemeinsam handeln. Sie müssen jetzt handeln.
Unsere Zusammenarbeit wird in dem Maße erfolgreich sein, wie sie dem wahren Charakter des heutigen Europas Rechnung trägt. Sein wesentliches Merkmal ist der uralte Reichtum an Vielfalt und Individualität. Dies ist die Quelle all dessen, was an unserem Zivilisationsmodell einzigartig, vielschichtig, kreativ und attraktiv ist. Der größte Reichtum unseres Kontinents ist eben diese innere Vielfalt mit all ihren Konsequenzen, auch im Hinblick auf die europäische Integration.
Polen ist heute ein sich dynamisch entwickelndes Land, das seine lang ersehnte Freiheit und Souveränität gut zu nutzen weiß. Wir bauen unser Potenzial in den Bereichen Dienstleistungen, Landwirtschaft, Energieinfrastruktur und Verteidigung weiter aus. Polen hat starke wirtschaftliche Beziehungen zu seinen westlichen Partnern in den Bereichen Außenhandel und industrielle Zusammenarbeit.
Wir sind ein loyales Mitglied der Europäischen Union und tragen zum Erfolg der Organisation bei, die auf der globalen Bühne konkurriert und kooperiert. Wir unternehmen auch große Anstrengungen, um ihre Grenzen zu schützen, insbesondere in den letzten Monaten.
Die Polen sind zuversichtlich, dass sich die Aussichten für die Entwicklung und die innere Konsolidierung der EU verbessern werden. Wir teilen die gleichen Bestrebungen und Hoffnungen, die die Gründerväter der EU bewegten, und wir wollen dazu beitragen, dass sie Wirklichkeit werden – für uns und für künftige Generationen.
Andrzej Duda, Präsident der Republik Polen
Der Text wurde in der Monatszeitschrift Wszystko Co Najważniejsze (Polen) im Rahmen eines historischen Bildungsprojekts mit dem Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Nardowej) und der Polnischen Nationalbank (NBP) veröffentlicht.