1.09.2020 Aktuelles

Solidarność: Der Stein, der eine Lawine auslöste

Gastkommentar von Mateusz Morawiecki für "die Presse" Vor 40 Jahren entstand in Danzig nach wochenlangen Streiks die erste unabhängige Gewerkschaftsbewegung im kommunistischen Ostblock. Ihr Vermächtnis ist Solidarität als gesamteuropäisches Projekt.

Die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern sind vom Grundsatz der Solidarität geprägt, die eine zuverlässige Basis für die Gestaltung einer besseren Zukunft Europas ist.

Vor 40 Jahren, in den heißen Sommermonaten des Jahres 1980, sah Europa völlig anders aus als heute. Damals verlief der Eiserne Vorhang quer über den Kontinent und war nicht nur eine symbolische Linie politischer Teilung, sondern trennte freie demokratische Staaten von jenen, die ihrer Souveränität beraubt wurden und in Abhängigkeit zum Sowjetimperium standen.

Zu diesen Ländern gehörte auch mein Heimatland Polen, das während des Zweiten Weltkriegs fast sechs Millionen Bürger verlor, wovon die Hälfte jüdischer Herkunft war. Dies war eine Katastrophe, die menschlich kaum zu bewältigen war.

Und doch haben wir es versucht. Während der Zeit der Unterdrückung nach dem Krieg gaben wir in der Volksrepublik Polen unsere Bestrebungen nach Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit nicht auf. Wir haben uns nie mit diesem ungerechten Urteil der Geschichte abgefunden. Deshalb gab es in Polen ständig Versuche, einen heroischen Kampf gegen das von Moskau gesteuerte Regime zu führen. Leider vergeblich – die kommunistischen Machthaber schlugen alle Proteste der polnischen Gesellschaft blutig nieder, überwachten das Volk und zensierten Äußerungen von Freiheit in Kunst und Literatur. Mit jeder Auflehnung stieg die Opferzahl, die Hoffnung versiegte jedoch nicht, sondern verhalf Polen durch die Auguststreiks von 1980 zu einem Durchbruch. Damals im gesamten Sowjetblock unvorstellbar, sorgte es weltweit für Erstaunen und Bewunderung zugleich. Nach zahlreichen Arbeiterstreiks in Werften und anderen Betrieben in ganz Polen musste sich die despotische kommunistische Partei schließlich beugen und stimmte der Gründung der ersten unabhängigen und selbstverwalteten Gewerkschaft im Sowjetblock zu.

So wurde die „Solidarność“ geboren. Formal als Gewerkschaftsorganisation gegründet war sie de facto eine landesweite Volksbewegung, die Millionen von Polen zu einer mit Zuversicht erfüllten Gemeinschaft vereinte. Woher kam diese Zuversicht? Wir schöpften und schöpfen sie bis heute aus einer jahrhundertealten politischen Tradition – der Liebe zur Freiheit und Demokratie, aus unserer Verbundenheit mit Europa, in dem Polen seit tausend Jahren eine aktive Rolle spielt, und aus der Inspiration, die Johannes Paul II. in uns geweckt hat. Seine Wahl zum Papst war für die Polen eine unaufhörliche Quelle der Hoffnung und Kraft.

Heute sieht man deutlich, dass die „Solidarność“ der Stein war, der 1989 eine Lawine und in der Folge den Fall des Eisernen Vorhangs auslöste. Polen befreite sich aus der sowjetischen Einflusssphäre und Europa konnte wieder eine Einheit werden.

Obwohl seit dem Entstehen der „Solidarność“ 40 Jahre vergangen sind, leben die Ideale der Solidarität weiter und müssen weitergelebt werden. Wir Polen haben sie nicht wie Museumsexponate verwahrt, sondern betrachten sie als Werte, die als Maß für das gesellschaftliche Leben dienen, eine Art Vorbild, nach dem wir streben. Doch Solidarität ist mehr als nur eine gesellschaftspolitische Forderung. Es ist eine Form der Existenz, die sich auch in alltäglichen Gesten und Verhaltensweisen widerspiegelt. Die Worte von Johannes Paul II. „Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität“ erinnern uns daran, dass es keine Solidarität ohne Liebe und ohne diese beiden auch keine Zukunft gibt.

Wenn Naturkatastrophen über uns hereinbrechen, wird die Solidarität nicht nur zu einem der höchsten Handlungsprinzipien, sondern zu einer Grundvoraussetzung des Überlebens. Dies haben wir oft beobachtet und beobachten es heute im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie wieder. Bedingungslose Hilfe, Opfer zur Rettung von Mitmenschen, aufrichtiger Altruismus, Empathie, Überwindung von Angst und Egoismus – diese Ideale wurden von Menschen im Gesundheitswesen, aber auch von Verkäufern, Lehrern, Unternehmern und Hunderttausenden von Bürgern in den schwierigsten Momenten gelebt. Dank ihrer Haltung wird uns bewusst, was Solidarität in der Praxis bedeutet.

Solidarität hat jedoch einen zu hohen Stellenwert, als dass wir uns nur in Krisenzeiten von ihr leiten lassen dürfen. Ihre Ideale sollten auch das tägliche Leben bestimmen und in Herzlichkeit, Gastfreundschaft, Offenheit und Nachsicht zum Ausdruck kommen. Um diese Ideale in uns zu wecken, reicht eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz und den positiven Eigenschaften unserer Persönlichkeit.

Jeder, der den Geist der Solidarität in sich selbst erkennt, wird verstehen, dass er sich nicht nur auf das Individuum beschränken darf. Solidarität braucht eine Gemeinschaft, denn nur in dieser kann sie zur vollen Geltung gelangen. Deshalb muss sie ein Grundprinzip unseres Zusammenlebens sein. Das wird uns besonders heute vor Augen geführt, wo Millionen von Menschen in Polen und Europa mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu kämpfen haben. Dies erfordert entschlossenes Handeln zur Eindämmung des Virus und ambitionierte Strategien, die Unternehmer, Angestellte, ihre Familien und Kommunen vor den Auswirkungen der Krise schützen. All das wäre nicht möglich, wenn wir in unserem Handeln nicht den Grundsatz der Solidarität verfolgen würden.

Auch Europa braucht jetzt den Geist der Solidarität. Wir befinden uns in einer schwierigen Lage, die wir nur zusammen als Gemeinschaft bewältigen können. Deshalb ist es in Zeiten, in denen unser Zusammenleben auf eine harte Probe gestellt wird, so wichtig, dass gemeinschaftliches Denken über Egoismus steht. Wir wünschen uns ein starkes Europa und ein starkes Polen. Ich bin überzeugt, dass wir eine gemeinsame Zukunft gestalten können, solange das Erbe der „Solidarność“ die Grundlage unseres Handelns bildet.

Daher ist es heute, 40 Jahre später, unsere wichtigste Aufgabe dafür zu sorgen, dass die „Solidarność“ für die ganze Welt nicht nur ein Kapitel in der polnischen Geschichte bleibt.

Wir müssen Solidarität zu einem gesamteuropäischen Projekt machen. Das ist unser Vorschlag für die kommenden Jahrzehnte.

Die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern sollten, unabhängig von Größe und wirtschaftlichem Potenzial, nach dem Vorbild zwischenmenschlicher Beziehungen gestaltet werden. Diese folgen automatisch dem Solidaritätsprinzip, das eine Garantie für eine bessere Zukunft Europas ist.

Dieser Text erscheint gleichzeitig in der polnischen Monatsschrift „Wszystko Co Najważniejsze“ im Rahmen eines Projekts zum 40. Jahrestag der Gründung der „Solidarność“.

Mateusz MORAWIECKI: Premierminister Polens, Historiker und Ökonom

Foto: Auguststreiks in der Danziger Leninwerft. Blick von oben auf das Tor Nr. 2 und die darunter versammelten Bewohner und Werftarbeiter. Über dem Tor ist ein Transparent mit dem Aufruf „PROLETARIER ALLER BETRIEBE, VEREINIGT EUCH!“ zu sehen und auf dem Dach des Wachhauses sind Tafeln mit 21 Forderungen angebracht.


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