6.10.2020 PressPOLSKA

Womit war die Welt beschäftigt …

... als wir die Bolschewisten im Nacken hatten? / Historischer Essay von Wiesław Chełminiak

Als die von Wieprz aus vorstoßenden polnischen Truppen die bolschewistische Armee einkesselten, ratifizierte man in den USA den 19. Zusatzartikel zur Verfassung, durch den das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Frauen verzichteten auf Korsetts, tanzten Charleston, rauchten öffentlich Zigaretten, fluchten und trugen Herrenkleidung.

Download als PDF (125 KB)

Am 1. August, als die Bolschewisten den Bug überquerten, fand im Berliner Lustgarten eine Demonstration mehrerer Tausend Pazifisten statt. Ihr Motto „Nie wieder Krieg!“ drang jedoch nicht zu allen Deutschen durch. Manche empfanden Rachegelüste gegenüber den Franzosen und Briten oder betrachteten den Wehrdienst als Charakterschmiede und Pflicht eines jeden Patrioten.  Alle jedoch waren in Sorge, bald nichts mehr zu beißen zu haben.

Seit dem Ende des „Großen Kriegs“ waren zwar schon mehrere Monate vergangen, seine Spuren waren jedoch auf Schritt und Tritt sichtbar. Sieger und Besiegte erwartete eine finanzielle Katastrophe. Die Umstellung der Wirtschaft auf Friedenszeiten mündete in Rezession, Inflation, Überteuerung und Arbeitslosigkeit. Gewerkschaften riefen zu Streiks und Demonstrationen auf. Die Großstädte rangen mit einer Plage – der Bettelei. Terroristen und ganz gewöhnliche Verbrecher schöpften neue Kraft.

Im Feuerrauch

Immer noch kehrten demobilisierte Soldaten, häufig verletzt, nach Hause zurück. Die Grenzen der neu entstandenen Staaten waren nach wie vor fließend. Immer neue Flüchtlingswellen zogen durch Europa – vor allem aus Russland, wo ein Bürgerkrieg tobte. Die Franzosen, die in den Osten Millionen investiert hatten, bildeten sich immer noch ein, dass sie die Gebiete wiedererlangen würden. Die Weiße Armee lag jedoch in den letzten Zügen. Die Roten besetzen Sibirien, drangen bis zum Pazifik und zur Arktis vor, befriedeten Kasachstan und bereiteten sich auf einen Angriff auf die kaukasischen Republiken vor. General Wrangel hielt sich zwar noch auf der Krim, aber an den baldigen Untergang des Bolschewismus wollte kaum noch jemand glauben.

In Kleinasien donnerten ebenfalls die Kanonen. Die Türken kämpften gegen die Griechen, die vom Wiederaufbau des Byzantinischen Reichs mit Konstantinopel als Hauptstadt träumten. Am 10. August, als der Belagerungszustand über Warschau verhängt wurde, zerlegten die Alliierten die Überbleibsel des Osmanischen Reichs. Der entmündigte Sultan sah sich gezwungen, den Vertrag anzunehmen, die Vertragsbestimmungen mussten jedoch mit Gewalt ausgeführt werden.

Der Führer der türkischen Nationalisten Kemal Pascha berief in Ankara, das frei von Besatzungsmächten war, eine Nationalversammlung ein und ging zur Gegenoffensive über. Dann verjagte er zuerst die Franzosen aus Südanatolien. Dies ging mit einem Massaker an den einheimischen Armeniern einher.

Die Griechen, die Smyrna besetzten, nach Konstantinopel den größten Hafen in der Region, begannen mit der Umsetzung ihrer „Megali Idea“ (Großen Idee) in Form eines Pogroms im muslimischen Viertel und der Zerstörung von Moscheen. Dabei handelte es sich um ein weiteres Glied in der Kette von Verbrechen, die das ethnische und religiöse Mosaik Kleinasiens zunichte machten. Der Traum von einer neuen hellenistischen Epoche löste sich zwei Jahre später in Nichts auf – zusammen mit dem Rauch der brennenden, von den Türken zurückeroberten Stadt Smyrna.

Der Offizier mit dem Schweinekopf

Die alte, vorindustrielle Welt lag im Sterben und die Künstler waren die Ersten, die dies bemerkten. Im März 1920 verkündete der Apostel der Avantgarde Francis Picabia im Pariser Théâtre de l’Œuvre das „Manifeste cannibaledada“. Im April organisierten seine Brüder im Geiste eine Ausstellung im Hinterhof eines Kölner Brauhauses.

Die Besucher mussten die Ausstellung durch die Herrentoilette betreten und an einem kleinen Mädchen im Kommunionskleidchen vorbeigehen, das obszöne Gedichte vortrug. In einem Aquarium, das mit blutrot gefärbtem Wasser gefüllt war, schwamm eine Frauenperücke und auf dem Boden des Aquariums lag ein Wecker. Man muss zugeben, dass die Künstler die Reaktion der Öffentlichkeit vorhergesehen hatten: Neben einem der Exponate hing ein Beil an einer Kette, was eine klare Aufforderung zur Zerstörung des „Werks der Anti-Kunst“ war.

Am 30. Juni, dem Vorabend der Gründung des überparteilichen Rats für Nationale Verteidigung durch die Polen, begann an der Spree die Erste Internationale Dada-Messe. Zu ihren Attraktionen gehörte ein von der Decke hängender „Preußischer Erzengel“ – eine ausgestopfte Offiziersuniform mit einem Schweinekopf. Provokationen, die darauf ausgelegt waren, Skandale hervorzurufen, wurden – ebenso wie die extreme Politisierung, die Verachtung von Traditionen und ein absurder Humor – zum Markenzeichen der Dadaisten. Ohne Furcht vor der Abschwächung der revolutionären Welle erklärten die Berühmtheiten der Bewegung ihre Solidarität mit Lenin und seinen Kameraden.

Der Primus der neuen Ästhetik war Deutschland. In Berlin, der damals drittgrößten Stadt der Welt, gründete Erwin Piscator das „Proletarische Theater.“ Bei Potsdam wuchs Stück für Stück der rechter Winkel beraubte Einsteinturm empor – ein Symbol der Moderne in der Architektur. Für die Mehrheit der Kulturkonsumenten war das avantgardistische Menü schwer verdaulich. Die These, dass Innovation das Hauptkriterium für den Wert von Kunst ist, war noch nicht zum Axiom geworden.

Teuflische Rhythmen

Im Kino waren Monster nach wie vor angesagt. Deutschland war die Wiege der am Makabren Gefallen findenden und mit krankhaftem Erotismus unterfütterten gothic novel. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass der filmische Horror ausgerechnet hier seinen Anfang fand. Seit Februar spukte „Das Cabinet des Dr. Caligari“ über die Leinwände, im Oktober fand die Uraufführung des dritten (und einzigen bis heute erhaltenen) Teils des „Golem“ statt.

In Übersee strömten die Massen in eine Verfilmung von „Dr. Jekylland und Mr. Hyde“, auch wenn die kitschigen Melodramen mit Rudolph Valentino und der sinnlichen Apolonia Chałupiec – besser bekannt als Pola Negri – zugegebenerweise mehr Erfolg hatten.

Und in der Literatur? Zur Bibel der „verlorenen Generation“ wurde die posthume Ausgabe der Gedichtsammlung Wilfred Owens, der kurz vor Kriegsende gefallen war. Mit einiger Verspätung erblickte auch das 1916 von Agatha Christie geschriebene „Geheimnisvolle Verbrechen in Styles“ das Licht der Welt – die erste Erzählung, in der der Detektiv Hercule Poirot auftauchte. Der Berufs-Provokateur D.H. Lawrence enttäuschte seine Fans nicht und baute in seine „Liebenden Frauen“ ein bisexuelles Motiv ein.

Die Eliten lasen leidenschaftlich den vor Pessimismus strotzenden „Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler. In der zeitgleich erschienenen Streitschrift „Preußentum und Sozialismus“, die an seine Landsleute gerichtet war, rief der Historiosoph zum Kampf gegen die zwei Plagen der Gegenwart auf: Demokratie und Kapitalismus. Die Deutschen würden es seiner Meinung nach nur dann schaffen, sich dem Aufstand der Armen und der Ausbreitung der farbigen Rassen entgegenzustellen, wenn sie mit eiserner Hand regiert würden.

Als Symptome des Untergangs der Zivilisation wurden neben den Ausschweifungen der Bolschewisten und Dadaisten auch die Entwürfe der Architekten des Bauhauses angesehen, die angeblich einer „Ästhetik der Schwarzen“ huldigten. Zu einem weiteren Vorboten der Apokalypse wurde der Jazz, der die Welt in Coronavirus-Geschwindigkeit eroberte. New Orleans galt als Wiege der „teuflischen Musik“, aber in Chicago und im New Yorker Harlem, wo die Vorbehalte gegen schwarze und synkopierte Musik weniger ausgeprägt waren, offenbarte der Jazz sein kommerzielles Potenzial.

Das Lied „Crazy Blues“, das am 10. August von Mamie Smith aufgenommen wurde, avancierte zur meistverkauften Platte des Jahres 1920. Und damit war nicht das letzte Wort der Sklaven-Nachkommen gesprochen. Es machten Gerüchte die Runde, dass ein gewisser Junge in einem Orchester auf einem der Dampfschiffe, die über den Mississippi schipperten, dem Kornett unheimliche Töne entlockt. Aufgrund seiner Geschwätzigkeit nannte man ihn Satchelmouth. In Wirklichkeit hieß er Louis Armstrong.

Der Mann auf den Schienen

Frankreich war die stärkste Militärmacht in Europa, aber wirtschaftlich konnte es sich kaum auf den Beinen halten. Frieden zu schaffen stellte sich als noch schwieriger heraus als den Krieg zu gewinnen. In Paris glaubte man, dass die besiegten Deutschen „für alles bezahlen“ würden. Im Juli wurde nach einer Reihe zwischenstaatlicher Verhandlungen beschlossen, dass Frankreich am meisten erhalten soll, 52 Prozent der Reparationen, eine genaue Summe wurde jedoch nicht festgelegt.

Berlin spielte angesichts des unentschlossenen Standpunkts Großbritanniens und der Meinungen von Experten wie beispielsweise John Keynes, die soufflierten, dass der beste Ausweg aus der Krise sei, Geld in die deutsche Wirtschaft zu pumpen, auf Zeit. Die Deutschen sabotierten ebenfalls die Abrüstung, zu der sie durch den Versailler Vertrag verpflichtet worden waren.

Am 23. Mai, als die Rote Armee vergebens versuchte, die polnische Front an der Ukraine zu durchbrechen, brach an der Staatsspitze Frankreichs eine Krise aus. Kurz vor Mitternacht traf ein Bahnwärter aus Montargis auf eine über die Gleise wandelnde Gestalt im Pyjama. „Mein Freund, du wirst es nicht glauben, aber ich bin der Präsident der Republik“ – erklärte der barfüßige und mit blauen Flecken übersäte Mann.

Der Eisenbahner traute seinen Augen nicht. Er legte den Schlafwandler in sein eigenes Bett und rief einen Arzt. Unterdessen jagte der Präsidentenzug fröhlich weiter gen Süden. Erst am nächsten Morgen bemerkte der Diener, der das Staatsoberhaupt ergebnislos zu wecken suchte, dass das Schlafabteil leer war.

In einer offiziellen Mitteilung wurde verkündet, dass der 65-jährige Paul Deschanel durch das Fenster aus dem Zug gefallen sei, das er „in dem Wunsch“ geöffnet habe, „die Temperatur zu senken“, und dass er nur leichte Verletzungen davongetragen habe. Die Presse übte sich in bewundernswerter Zurückhaltung, aber der Präsident kehrte nie wieder zu seiner alten Form zurück. Als er gerade in Begleitung zweier Abgeordneter durch den Garten des Élysée-Palasts schlenderte, beschloss er plötzlich, auf einen Baum zu klettern. Ein anderes Mal stand er um sechs Uhr morgens auf, um – angekleidet – ein Bad im Teich zu nehmen.

Die Ärzte diagnostizierten Neurasthenie. Am 21. September wurde im Parlament ein Brief verlesen, in dem Deschanel aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustands sein Amt zur Verfügung stellte. Sieben Monate lang hatte er an der Spitze des Staates gestanden. Er zeichnete sich durch keinerlei Besonderheiten aus. Bekannt war er für seine eleganten Anzüge und seine Zuvorkommenheit, er bemühte sich um gute Beziehungen zu allen Parteien.

Seine Wahl war eine große Sensation gewesen. Eigentlich hatte man erwartet, dass die Abgeordneten für den Ministerpräsidenten – den „Tiger“ Georges Clemenceau – stimmen würden. Nach seiner Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen fühlte sich der Vater des Sieges von 1918 von seinen undankbaren Landsleuten gekränkt, kehrte der Politik den Rücken und fuhr nach Afrika und Asien, wo er die Gelegenheit hatte, echte Tiger zu jagen.

An der Spitze der Regierung stand nunmehr der raffinierte Sozialist Alexandre Millerand. Er erklärte sich einverstanden, Nachfolger Deschanels im Präsidentenamt zu werden, da er wusste, dass er den Staat nach wie vor lenken würde – wenn auch nur vom Rücksitz aus.

Auch die französischen Katholiken hatten Grund zur Freude. Am 16. Mai wurde Jeanne d‘Arc von Papst Benedikt XV. heiliggesprochen.

Gestern Mädchen, heute Flapper

Die Briten hätten bestimmt über die Probleme ihrer Nachbarn gespottet, wenn sie nicht selbst noch größere Schwierigkeiten gehabt hätten. Irland trennten nur noch wenige Monate von seiner Abspaltung vom Vereinigten Königreich. Neben Unruhen in Belfast musste sich der Premierminister Lloyd George mit Bergarbeiter-Streiks herumschlagen. Nach außen hin versuchten die Großmächte jedoch, die Fasson zu bewahren. Man ging dazu über, die geheimen Absprachen aus Kriegszeiten zu umzusetzen.

Die Araber mussten sich von ihrem Traum von der Selbstbestimmung verabschieden – Frankreich besetzte den Libanon und Syrien, Großbritannien den Irak, Jordanien und Palästina. Vor allem Letzteres wurde zu einer Quelle nicht enden wollender Schwierigkeiten. Der frisch gebackene Unterstaatssekretär für Kolonien Winston Churchill klagte, dass das Empire sich um Gebiete bereicherte, die „von aggressiven, aufbrausenden und arroganten Politikern und Theologen beherrscht werden, die noch dazu kein Geld haben“.

Den Europäern wurde langsam bewusst, dass der größte, ja vielleicht sogar einzige Sieger des „Großen Kriegs“ die Vereinigten Staaten von Amerika waren. Amerika setzte Trends. Kurzhaarfrisuren und kurze Plisseeröcke wurden zum Symbol der „wilden Zwanziger“. Am 2. November begann ein Radiosender in Pittsburgh als Erster weltweit, ein regelmäßiges Nachrichten- und Musikprogramm zu übertragen. Der geschäftstüchtige Eigentümer hatte zuvor einen Vertrag mit einem lokalen Plattenladen abgeschlossen: Im Tausch gegen die neuesten Hits informierte er seine Zuhörer in der Sendung, wo und zu welchem Preis sie diese erwerben konnten.

Eine gute Zigarre ist die Basis

Durch das Verschulden der USA geriet das Versailler System direkt nach seiner Geburt in Turbulenzen. Der Senat, in dem mehrheitlich Gegner von Präsident Wilson vertreten waren, lehnte die Ratifizierung des Friedensvertrags und den Beitritt zum von ihm erdachten Völkerbund ab – einer Organisation, die dauerhaften Frieden gewährleisten sollte. Die meisten Amerikaner unterstützten den missionarischen Eifer Wilsons nicht. Er selbst, der seit Herbst 1919 aufgrund eines Schlaganfalls teilweise gelähmt war, zeigte sich nicht mehr in der Öffentlichkeit. Die meiste Zeit verbrachte er in einem abgedunkelten Schlafzimmer.

Die Amtsgewalt übte gewissermaßen Edith Wilson aus, eine wenig gebildete, aber resolute Frau. Sie war es, welche die Korrespondenz und den Zugang zu ihrem Mann kontrollierte, bei der Unterzeichnung von Dokumenten seine Hand führte und den Willen und die Entscheidungen des Kranken bekanntgab. „Dieses Land wird von einem Weib regiert!“, schimpfte einer der Kongressabgeordneten.

Der Vizepräsident Thomas Marhsall brannte nicht darauf, die Pflichten des Staatsoberhaupts zu übernehmen. Er hatte den Ruf eines Faulpelzes und ging mit der Aussage in die Geschichte ein: „Was dieses Land wirklich braucht, sind gute Zigarren für fünf Dollar.“

Dieser Zustand dauerte bis zum Ende der Amtszeit im März 1921 an. Zuvor hatten die Amerikaner im November einen neuen Präsidenten gewählt – Warren G. Harding. Gemeinsam mit ihm tauchte im Weißen Haus die „Ohio Gang“ auf – eine Gruppe alter Kumpel, mit denen der Vater der Nation bis zum Morgengrauen Poker spielte.

Gin direkt aus der Wanne

Die neue Regierungs-Riege roch nach Korruption, im Leben der US-Bürger hielten hingegen tiefgreifende Veränderungen Einzug. Auf den Wegen und Straßen waren schon fast 10 Mio. Automobile unterwegs, jeder dritte Haushalt machte vom Segen der Elektrizität Gebrauch. Seit einem Jahr galt die Prohibition, weniger Menschen erkrankten an Leberschäden, die Männer kamen nüchterner zur Arbeit. Gleichzeitig blühten jedoch der Schwarzmarkt und die kriminelle Unterwelt auf.

Die Amerikaner brannten in großen Mengen Alkohol. „Letzten Sonntag habe ich fünf Gallonen Methodistenbräu gebraut, sie aber zu früh abgefüllt, was zu einer Reihe schrecklicher Explosionen geführt hat. Mein Nachbar ist schreiend aus dem Haus gelaufen. Er dachte, dass die Sowjets die Stadt eingenommen haben“, gab ein bekannter Feuilletonist bekannt. Die Anhänger härterer Getränke stellten hausgemachten „Badewannen-Gin“ her. Eine Nebenwirkung der Prohibition war der verstärkte Verkauf von Coca-Cola und Fruchtsäften. Sie wurden verwendet, um die verbotenen Drinks zu mischen.

Ein pyramidales Geschäft

Am 18. August, als die von dem Wieprz aus vorstoßenden polnischen Truppen die bolschewistische Armee einkesselten, ratifizierte man in den USA den 19. Zusatzartikel zur Verfassung, durch den das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Die Emanzipation machte kolossale Fortschritte. Frauen verzichteten auf Korsetts, tanzten Charleston, rauchten öffentlich Zigaretten, fluchten, saßen am Steuer, trugen Herrenkleidung und übten männliche Berufe aus.

Während sich das Schicksal der Republik Polen bald entschied, posaunte die amerikanische Presse den Zusammenbruch von Charles Ponzis Finanzpyramide heraus. Dieser tüchtige Geschäftsmann hatte jedem, der seine Securities Exchange Company mit Bargeld versorgte, eine Rendite in Höhe von 50 % versprochen. Einige Monate lang hielt er sein Wort, während er wöchentlich eine Million Dollar abräumte.

Schlussendlich platzte die Spekulationsblase nach enthüllenden Artikeln in der „Boston Post“ mit einem lauten Knall. Ponzi landete für fünf Jahre hinter Gittern. Anschließend wurde er nach Italien abgeschoben, weil er keine US-amerikanische Staatsbürgerschaft besaß.

Am 16. September kam es zum ersten terroristischen Anschlag in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. In der Wall Street wurden durch die Explosion eines mit Dynamit beladenen Pferdewagens 38 Personen getötet und über 400 Personen verletzt. Der Täter dieses Massakers wurde nie gefasst, zweifellos war er jedoch ein erbitterter Gegner des Kapitalismus.

Wie der Kaiser zum Holzfäller wurde

Deutschland befand sich nach wie vor ständig unter Kontrolle. Das Land wurde (ebenso wie Ungarn, Österreich, Bulgarien und die Türkei) nicht zu den olympischen Sommerspielen in Antwerpen eingeladen, die im April begannen. In Artikel 227 des Versailler Vertrags war die Schaffung eines Tribunals vorgesehen, vor dem über die Kriegsverbrecher geurteilt werden sollte.

Den Alliierten lag vor allem daran, Kaiser Wilhelm II., der sich in Holland aufhielt, auf die Anklagebank zu bringen. Man warf ihm „Verbrechen gegen die internationale Moral“ vor. Es wurde sogar ein Ort für den Gerichtsprozess bestimmt – das Schloss von Dover.

Der gestürzte Herrscher erhielt Briefe voller Beleidigungen und Drohungen. Die Nachricht, dass eine Gruppe amerikanischer Offiziere planen würde, ihn zu entführen, entsetzte ihn so sehr, dass er begann, eine Krankheit vorzutäuschen und sich einen Bart wachsen zu lassen. Wilhelms Freunde trösteten ihn damit, dass er im schlimmsten Fall wie Napoleon auf eine exotische Insel verbannt werden würde.

Im Januar und Februar stellten die Alliierten einen formellen Auslieferungsantrag, den die Holländer rundheraus ablehnten. Der Ex-Kaiser musste jedoch versprechen, dass er allen politischen Aktivitäten vollkommen entsagen würde. Von dem Geld, das er von der preußischen Regierung erhielt, kaufte er sich ein 60 Hektar großes Gut. In der Presse machten Bilder des Hohenzollern die Runde, auf denen er Holz fällte und sägte – das war seine neue Leidenschaft. Die Holzscheiben versah er mit Datum und Unterschrift, dann verschenkte er sie. Er lebte weiter in der Vorstellung, dass er eines Tages auf den Thron zurückkehren werde.

Gefälschte Rubel, echtes Quecksilber

Unterdessen herrschte in der deutschen Politik ein wackeliges Gleichgewicht. Im März zettelten Soldaten in Berlin einen vom Direktor der Kreditbank Wolfgang Kapp unterstützten Putsch an. Nach einigen Tagen mussten sie jedoch wie begossene Pudel in ihre Kaserne zurückkehren. Im April übernahm im Ruhrgebiet die anarchistische Rote Ruhrarmee die Macht – mit ähnlichem Erfolg. Bei den Reichstagswahlen im Juni konnte kein eindeutiger Sieger ermittelt werden. In Deutschland brach das Zeitalter der Minderheitskabinette an.

In Bayern schwang der 31-jährige Adolf Hitler bombastische Reden, in denen er eine jüdische Weltverschwörung aufdeckte. Die „Münchener Post“ nannte ihn einen Komödianten und „Rädelsführer des Pöbels“. Obwohl sich der NSDAP-Führer förmlich zerriss und kreuz und quer das Land bereiste, hatte seine Partei am Ende des Jahres kaum zweitausend Mitglieder (Anfang des Jahres waren es allerdings lediglich 190). Als größere Gefahr für die öffentliche Ordnung betrachtete die Polizei den ehemaligen deutschen Chef der Obersten Heeresleitung Erich von Ludendorff, der sich im Sommer in München niedergelassen hatte.

Der General schmiedete Pläne für einen antibolschewistischen Kreuzzug und den Umsturz des Versailler Systems. Der ungarische Reichsverweser Miklós Horthy empfing seine Emissäre im Gegenzug für das Versprechen, dass die Weiße Internationale zunächst erst einmal die Tschechoslowakei platt machen würde, und erklärte sich damit einverstanden, das Unterfangen zu unterstützen und beim Druck falscher Rubelnoten behilflich zu sein. Mit ihnen sollte der Sold der Armee bezahlt werden, die sich aus russischen Emigranten rekrutierte. Lediglich Pal Teleki, der Außenminister und baldige Ministerpräsident, widersetzte sich. Er sollte Recht behalten, denn einer der Verschwörer (der seine jüdische Identität verborgen hielt) entpuppte sich als prinzipienloser Mensch. Er verkaufte den Tschechen die Aufzeichnungen vom Geheimtreffen für rund 500.000 Kronen (also ca. 40.000 Euro). Zum Jahresende veröffentlichte die britische „Times“ diese Unterlagen mit einem entsprechenden Kommentar, was die Weiße Internationale kompromittierte, bevor sie etwas dagegen ausrichten konnte. Ludendorff fand schnell ein neues Lebensziel: Er beschloss, die Macht in Bayern zu erlangen und Gold aus Quecksilber herzustellen.

Nicht auf den Dichter schießen

Im Jahr 1920 war Gabriele D‘Annunzio der beliebteste italienische Dichter – der von seinen Anhängern „Il Vate“(Prophet) oder „Duce“ (Führer) genannt wurde. Der temperamentvolle Poet entschied kurzerhand über einen der Gebietskonflikte Italiens mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, also Jugoslawien. An der Spitze einer Handvoll Freiwilliger besetzte er den Hafen Fiume (das heutige Rijeka) in der Adria und rief eine neue politische Einheit aus: Die italienische Regentschaft am Quarnero. Er räumte den Frauen das Wahlrecht ein (die Italienerinnen mussten noch weitere 25 Jahre auf dieses Privileg warten) und gestattete ihnen, sich scheiden zu lassen. Er führte auch eine eigene Währung und den „römischen Gruß“ mit dem rechten, ausgestreckten Arm ein.

Nach Fiume kamen nach und nach Prominente, angeführt vom Radio-Erfinder Marconi und dem Dirigenten Toscanini, und zahlreiche Sonderlinge. Gerüchte machten die Runde, dass die Stadt zu einem Paradies für Homosexuelle und Drogenabhängige geworden sei. Im September entwarf D‘Annunzio ein Wappen mit dem Sternbild des Großen Bären und rief eine republikanische Verfassung aus, die er in Zukunft allen Landsleuten aufzwingen wollte.

Er erarbeitete sogar einen Plan für einen Marsch auf Rom, aber die italienische Regierung kam ihm zuvor. Man handelte mit Belgrad aus, dass Fiume den Status einer Freien Stadt erlangen sollte. Ausgerechnet am Heiligen Abend wurde die Regentschaft am Quarnero vom Meer aus angegriffen. Die 15-monatige Herrschaft des Poeten fand ihr Ende. Der verletzte und verbitterte D‘Annunzio zog sich aus der aktiven Politik zurück und ließ sich in einer Villa mit Blick auf den Gardasee nieder. Dort verbrachte er umgeben von Liebhaberinnen den Rest seines Lebens.

Der Mond über London

Benito Mussolini, Chef einer faschistischen Kleinstpartei, rührte keinen Finger, um seinem Idol zu helfen. Auch er wollte Duce werden. Auf Änderung seines Schicksals hoffte ebenso der 21-jährige Ernest Hemingway, der gerade als Journalist bei der kanadischen Zeitung „Toronto Star“ angefangen hatte. Der zwei Jahre ältere Joseph Goebbels, Sympathisant der extremen Linken und ewiger Student, wollte Selbstmord begehen, nachdem ihm ein Mädchen (das er zuvor einem Freund ausgespannt hatte) einen Korb gegeben hatte.

Der 28-jährige Veteran Josip Broz fasste den Beschluss, nach Kroatien zurückzukehren. An der Grenze wurde er festgenommen und gemeinsam mit seiner Frau, die er in Sibirien kennengelernt hatte, einer einwöchigen Quarantäne unterstellt. Die Polizei vermutete (nicht unbegründet), dass er ein verdeckter Bolschewist sei. Stephan Bandera wurde im Gymnasium in Stryj unterrichtet. Nicolae Ceaușescu hingegen, Sohn eines moldawischen Säufers, löffelte Maisbrei in einem Haus aus Stroh und Lehm.

Die gescheiterte Selbstmörderin Anna Anderson, die sich seit dem 17. Februar in einem Berliner Krankenhaus befand, war noch nicht auf den Gedanken gekommen, Bekannt zu geben, dass sie die auf wundersame Weise gerettete Tochter des russischen Zaren sei. In Barcelona feierte Antoni Gaudi einen Erfolg: Vier der achtzehn geplanten Türme der gigantischen Basilika waren fertiggestellt worden. Niemand ahnte, dass die Sagrada Familia einhundert Jahre später immer noch nicht vollendet sein würde. Das Leben ging weiter. Am 18. August rollte der erste Nachtbus durch die Straßen Londons.

 


 

Quelle: https://tygodnik.tvp.pl, 07.08.2020

Übersetzung: Agata Biernacka

Redaktion: Rainer Mende (Polnisches Institut Berlin – Filiale Leipzig)

 

Bilder: Obraz artystki malarki Kazimiery Dąbrowskiej przedstawiający portret tancerki Haliny Szmolcówny namalowany w 1920 roku & Rysunek z 1929 roku artysty malarza Henryka Berlewiego przedstawiający portret żony dyplomaty Tadeusza Jackowskiego Anny Schildenfeld-Schiller / Narodowe Archiwum Cyfrowe (NAC)

 


 

Scheduled PressPOLSKA

Polish View on Russia’s Full-Scale-Invasion of Ukraine

Essays by Mateusz Morawiecki, Andrzej Nowak and Piotr Gliński
24 02.2023 PressPOLSKA

Fryderyk Chopin – poet of Polish freedom

Article by Artur Szklener / 160th anniversary of the Polish January Uprising 1863
22 01.2023 PressPOLSKA

Über die polnische Romantik 🗓

Begleittext zur Ausstellung "The Romantic"
11 10.2022 PressPOLSKA