22.11.2021 - 4.02.2022 Ausstellungen, Kunst

Die Ökonomie des Schenkens: Joseph Beuys, Polentransport 1981

"In den Jahren 1980-1981 schufen die Polen eine gigantische „soziale Plastik“ aus zehn Millionen Elementen." - "Solidarnosc " in den Augen von Joseph Beuys.

Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Joseph Beuys (www.beuys2021.de), des 90. Jahrestags der Schenkung der Internationalen Sammlung Moderner Kunst an das Muzeum Sztuki, Łódź durch die Gruppe „a.r.“ (15. 02.1931), des 40. Jahrestags der Verhängung des Kriegsrechts in Polen (13.12.1981) und des 30. Jahrestags der Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit (17.06.1991).

22.11.2021 – 4.02.2022
Eröffnung: Freitag, den 19.11.2021, um 19 Uhr
Kurator: Maciej Cholewiński, Kurator, Muzeum Sztuki, Łódź
Galerie des Polnischen Instituts Düsseldorf           
Öffnungszeiten: Di – Fr  11 – 17 Uhr

Um es mit der Begrifflichkeit von Joseph Beuys zu formulieren: In den Jahren 1980-1981 schufen die Polen eine gigantische „soziale Plastik“ aus zehn Millionen Elementen – „antisozialistischen Elementen“, wie die kommunistische Propaganda sie nannte. Gemeint war die „Solidarność“, die erste unabhängige, das heißt nicht von einem totalitären Regime kontrollierte Gewerkschaft zwischen Eisenach in der DDR und Wladiwostok in der UdSSR. Von den zahlreichen anderen Ländern unter kommunistischer Herrschaft ganz zu schweigen – China, Nordkorea, Kambodscha …

Joseph Beuys war nicht nur Künstler, sondern auch politischer Aktivist. Vor allem war er ein erbitterter Kritiker der beiden damals herrschenden und miteinander konkurrierenden Systeme. Er glaubte an die Möglichkeit eines dritten Wegs, der frei wäre von den Irrtümern und Fehlern des Kapitalismus und des Kommunismus, die beide – allen großen Erklärungen zum Trotz – keine Lösungen für die grundlegenden geistigen und materiellen Probleme der Menschheit anzubieten hatten. Beuys engagierte sich in den Debatten darüber, wie dieser dritte Weg aussehen könnte. Ihm schwebte ein System vor, das auf der Selbstbestimmung und Selbstorganisation freier und bewusster Individuen beruhte. Eine ausgewogene Synthese aus Kommunismus und Kapitalismus. Eine Kritik der bislang bestehenden Institutionen. Das Streben nach der Entwicklung einer individuellen Identität aus dem Gefühl der Verwurzelung im Lokalen, in kleinen Gemeinschaften, in der Familie, in der Berufsgruppe, aber auch in der Religion.

Das Aufkommen der „Solidarność“ war für Beuys nicht nur ein klares Omen für den Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur, sondern auch Verheißung einer neuen Wirklichkeit. In der vor allem von Arbeitern geschaffenen Bewegung sah er eine Verkörperung des dritten Wegs: die Suche nach einem Kompromiss, ein Versuch, den Kommunismus zu überwinden, der gleichwohl die sozialen Errungenschaften bewahren wollte und auf einem starken Bewusstsein für Gemeinschaft und Tradition fußte. Das Wirken der „Solidarność“ erschien Beuys als ideale Realisierung seines Konzepts der „sozialen Plastik“, deren Material für ihn das menschliche Handeln und dessen Einfluss auf Funktionsweise und Gestalt der menschlichen Gemeinschaft waren.

Im August 1981 machte sich Joseph Beuys mit seiner Familie auf den Weg von Düsseldorf nach Łódź. Auf dem Dach seines Wohnmobils transportierte er in einer Holztruhe eine Schenkung in Gestalt von mehr als 700 Zeichnungen, Objekten, Dokumentationen und Archivmaterialien zu seinem bisherigen Schaffen, zu denen nach der Ankunft 13 Grafiken hinzukamen – Skizzen von der Aktion der Truhe.

Beuys nannte diese Aktion „Polentransport 1981“. Er knüpfte damit an die Geschichte des Muzeum Sztuki s in Łódź an, das seit seiner Gründung im Jahr 1930 eine enge Verbindung zur Avantgardekunst pflegte. Zum Herzstück des Hauses entwickelte sich die Internationale Sammlung Moderner Kunst der Gruppe „a.r.“, deren erster Teil dem Museum am 15. Februar 1931 offiziell übergeben worden war.

Die „a.r.“-Sammlung war eine Idee von Władysław Strzemiński, der zusammen mit seiner Frau, der Bildhauerin Katarzyna Kobro, und mit dem Maler Henryk Stażewski sowie den beiden Dichtern Jan Brzękowski und Julian Przyboś eine der interessantesten Formationen der polnischen Kunst ins Leben gerufen hatte – die Gruppe „a.r.“ („artyści rewolucyjni“ [revolutionäre Künstler] oder „awangarda rzeczywista“ [wahre Avantgarde]).

Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wuchs die Sammlung auf mehr als 100 Werke von Künstlern der internationalen Avantgarde an, darunter Jean Arp, Alexander Calder, Sonia Delaunay, Max Ernst, Fernand Léger, Pablo Picasso, Kurt Schwitters, Marcel Seuphor i Piet Mondrian, Georges Vantongerloo. Alle Werke waren Schenkungen.     

Mit der klassischen Avantgarde verband Beuys die Überzeugung, dass die Kunst mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten, ihren nahezu magischen, „schamanischen“ Kräften die Heilung des von Krieg und Teilung betroffenen europäischen Kontinents fördern könne. Seine Reise nach Łódź verstand er als symbolischen Aufbruch zu einer Suche nach einem neuen Weg der sozialen Entwicklung jenseits der vom Kapitalismus erzeugten Spannungen und den starren Doktrinen des Kommunismus.

Das Polen, das Beuys besuchte, war ein von Streiks erschüttertes und im wirtschaftlichen Chaos versunkenes Land mit leeren Geschäften und mit Rationierungen von Lebensmitteln und anderen Waren, aber zugleich immer noch eine starke, von der UdSSR gestützte Diktatur.

Am 30. Juli 1981 fand in Łódź ein Marsch mit Zehntausenden Teilnehmern statt – der von der „Solidarność“ organisierte „Marsch der hungernden Frauen“.
Am 18. August 1981 übergab Joseph Beuys dem Muzeum Sztuki in Łódź  (Muzeum Sztuki  Łódź) seinen „Polentransport 1981“.
Am 13. Dezember 1981 rief General Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht aus.
*
Die Geschichte des Muzeum Sztuki beginnt damit, dass in einer Zeit, in der die Stadt eigentlich nur aus Fabriken bestand, die Krakauer Familie Bartoszewicz ihre Sammlung nach Łódź brachte. Mit der Unterzeichnung des entsprechenden Vertrags im Jahr 1928 gelangte das Haus in den Besitz einer Sammlung von Gemälden und kunsthandwerklichen Objekten sowie einer wertvollen Bibliothek mit Unikaten, historischen literarischen Handschriften und Drucken sowie einem Buchbestand mit den Schwerpunkten Geschichte, Politik, Diplomatie und Recht.

1931 übergab Władysław Strzemiński im Namen der Gruppe „a.r.“ dem Museum offiziell den ersten Teil der Internationalen Sammlung Moderner Kunst der Gruppe „a.r.“.

1939 schenkten die Fabrikanten Karol Eisert und Jakub Brat-Kon sowie die Erben Henryk Grohmans dem Museum wertvolle Sammlungen mit Gemälden, die sie in Berliner und Wiener Salons gekauft hatten.

1975 erhielt das Muzeum Sztuki  Łódź eine einzigartige Sammlung britischer Pop-Art sowie Arbeiten von in London ausstellenden polnischen Künstlern. Geber war der polnische Pharmazeut, Apothekenbesitzer und Kunstliebhaber Mateusz Grabowski. Er hatte 1959 die Grabowski Gallery gegründet, in der er die Zeit des Swinging London „beobachtete“, indem er Künstler wie Derek Boshier, David Hockney, Allen Jones, Peter Phillips, Pauline Boty oder Bridget Riley einlud.

2005 schenkte die Gewerkschaft „Solidarność“ dem Museum eine Sammlung von Arbeiten, die während der legendären Ausstellung „Konstrukcja w Procesie“ (Konstruktion im Prozess) entstanden waren. Diese Ausstellung war 1981 in Łódź kurz vor der Verhängung des Kriegsrechts eröffnet worden. Der Initiator Ryszard Waśko hatte bekannte Künstler und „Stars“ der Weltkunst der 1970er Jahre eingeladen, die fast einen Monat lang zusammen mit Arbeitern und Einwohnern der Stadt Kunstwerke schufen. Die so entstandene Sammlung hatte Ryszard Waśko im Namen der Künstler der „Solidarność“ übergeben, die sie am 14. Dezember 1981 der Stadt schenken wollte. Einen Tag vor der Übergabe wurde jedoch das Kriegsrecht verhängt, die „Solidarność“ verboten und die Sammlung zunächst „verhaftet“ und später halb legal ins Muzeum Sztuki  gebracht, wo sie bis zum Ende des kommunistischen Systems lagerte.

2006 und 2011 schenkten Adam Paczkowski und Radosław Sowiak dem Museum mehrere Dutzend Arbeiten von Künstlern aus dem Umfeld der Neoavantgarde, die im kommunistischen System eine Randexistenz geführt hatten. Die Werke stammten aus einer Zeit, in der Paczkowski und Sowiak während des Kriegsrechts die Untergrundgalerie „Czyszczenie Dywanów“ (Teppichreinigung) betrieben. Offiziell handelte es sich um einen Dienstleistungsbetrieb, in Wirklichkeit war es eine normale Galerie mit Ausstellungen und Vernissagen, Kunsthandel und Begegnungen – was seinerzeit verboten war.

Joseph Beuys’ Schenkung vom August 1981 ist ein wichtiger Bestandteil der Sammlungen des Muzeum Sztuki s Łódź im Bereich der modernen Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie passt perfekt zur Geschichte und Philosophie einer Institution, deren Wirken genau so begann, nämlich mit einer Schenkung. Diese erste Geste, die später von anderen Künstlern und Sammlern wiederholt wurde, sollte das Gesicht der Stadt verändern – durch die Kraft der Ideen, durch die Kraft der Bilder als freiem Ausdruck des Denkens.

Maciej Cholewiński, Kurator, Muzeum Sztuki, Łódź
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Joseph Beuys (www.beuys2021.de), des 90. Jahrestags der Schenkung der Internationalen Sammlung Moderner Kunst an das Muzeum Sztuki, Łódź durch die Gruppe „a.r.“ (15. 02.1931), des 40. Jahrestags der Verhängung des Kriegsrechts in Polen (13.12.1981) und des 30. Jahrestags der Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit (17.06.1991).

Ausstellung:
Die Ökonomie des Schenkens: Joseph Beuys, Polentransport 1981
Dauer der Ausstellung: 22.11.2021 – 4.02.2022     
Eröffnung: Freitag, den 19.11.2021, um 19 Uhr
Kurator: Maciej Cholewiński, Kurator, Muzeum Sztuki, Łódź
Koordination: Monika Kumięga, Polnisches Institut Düsseldorf
Polnisches Institut Düsseldorf                                             
Öffnungszeiten: Di – Fr  11 – 17 Uhr                      
Die Ausstellung wurde vorbereitet in Zusammenarbeit mit dem Muzeum Sztuki Lodz
Und im Rahmen Beuys202 (Ein Projekt des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter der Leitung von Prof. Dr. Eugen Blume und Dr. Catherine Nichols.)

Abb: Der Besuch von Joseph Beuys (mit Ryszard Stanisławski, dem damaligen Direktor des Museums) im Muzeum Sztuki in Łódź im Zusammenhang mit der Schenkung der Sammlung „Polentransport 1981“, August 1981 © Archiv Muzeum Sztuki, Łódź

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