28.08.2020 PressPOLSKA

40 Jahre Solidarność

Essay von Prof. Timothy Snyder (Historiker)

Die Bedeutung der ersten freien unabhängigen Gewerkschaft im kommunistischen Mittelosteuropa für den Umbruch von 1989 – und was wir von ihr lernen können

Die Entstehung der Solidarność ist eines der wichtigsten Ereignisse für Polen und weltweit im ausgehenden 20. Jahrhundert. Sie war der Moment, der das Wesen des Lenin-Systems veränderte. Bis dahin hatte die kommunistische Partei das Machtmonopol für sich gepachtet. Dies änderte sich mit dem Erscheinen der Solidarność. Zu jener Zeit bildete sich auch eine Generation von Oppositionellen heraus, die später bei den Verhandlungen am Runden Tisch Platz nehmen und danach eine Schlüsselrolle im demokratischen Polen spielen sollte. Ohne das Abkommen von Gdańsk und die Solidarność, die in seiner Folge entstand, hätte es die Wahlen vom 4. Juni 1989 nicht gegeben.

Die Tatsache, dass die Existenz der Solidarność am 31. August 1980 legalisiert wurde, war in dreierlei Hinsicht bedeutend. Erstens sendete sie das Signal, dass der Kommunismus nicht ewig dauern würde. Bis dahin schien das System unüberwindbar. Man konnte sich nicht vorstellen, es durch ein anderes zu ersetzen. Zweitens zeigte die Solidarność, dass ein neues Nachkriegspolen geboren war. Es existierte nunmehr nicht nur der kommunistische Staat, sondern eine polnische Gesellschaft, die sich nicht mit ihm identifizierte. Drittens bewies die Solidarność, dass in Polen eine echte Bürgergesellschaft existierte, die tatsächlich über ihre Werte und Wege der Entwicklung diskutierte. Die Solidarność ermöglichte eine solche Diskussion.

In Polen lernte eine neue Generation von Oppositionellen von denen, die früher aufbegehrt hatten. Eine solche Erfahrung in einer Situation, in der Zusammenarbeit und der Aufbau weicher Bindungen zählten, ist ein wertvolles Kapital. Die Streiks artikulierten nicht nur Protest, sie schufen auch den Rahmen, um eine neue Bewegung aufzubauen, neue Strukturen zu schaffen. Genau das war das Wichtigste im August 1980 auf der Werft in Gdańsk. Es genügt nicht, in den Streiks lediglich einen Aufstand gegen die kommunistischen Machthaber zu sehen. Sie waren auch ein Beispiel für langfristiges Denken, für den Aufbau einer Bewegung.

Der Niedergang des Kommunismus war auch eine Folge der Politik Michail Gorbatschows. Der sowjetische Staatsmann hatte nicht verstanden, in welchem Maße das äußere Imperium integraler Bestandteil des gesamten Systems war.

Heute kritisieren viel Russen Gorbatschow für die Entscheidungen, die er gegen Ende der 1980-erjahre getroffen hatte. Aber diese Kritik ist übertrieben. Zwar beging er taktische Fehler, aber seine politische Konzeption war ein sehr mutiges Experiment. Ihren Kern erklärte er Erich Honecker, dem kommunistischen Führer der DDR, dem er geradheraus sagte, dass er jedem Staat des sozialistischen Blocks erlaube, einen eigenen Weg einzuschlagen. Das war ein sehr wichtiger, ein historischer Schritt.

Dieser Schritt erwies sich als taktischer Fehler, weil die Akteure in Polen schon damals bereit waren, die sich ihnen nun bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Auf der anderen Seite mussten die kommunistischen Machthaber – in Einklang mit Gorbatschows Vorgaben – mit jemandem Verhandlungen aufnehmen, und in Polen hatten sie nun ein Gegenüber. Damit begann ein Prozess, der zur Demontage des Kommunismus führte.

Die Länder des östlichen Mitteleuropas nutzten glänzend die Möglichkeiten, die sich ihnen mit dem Fall des Kommunismus boten – mit einer Einschränkung: Im Rahmen der Veränderungen verlor man das Erbe des politischen Denkens aus den Augen, das sich in den 1970-er und 1980-erjahren herausgebildet hatte. Ab 1989 folgte man einfachsten Handlungsmustern, welche die Politik auf wirtschaftliche Fragen reduzierten. Unreflektiert berauschte man sich an den Möglichkeiten, die der freie Markt bot – im Glauben, dieser löse alle Probleme. Aber dem ist nicht so. Man darf nicht vergessen, Politik zu machen, auch bei der Einführung von marktwirtschaftlichen Maßnahmen. Das fehlte in den 1990-erjahren. Sehr schnell vergaßen Polen und andere Länder der Region die einfache Solidarität. Das Jahr 1989 hätte ohne die Solidarność-Bewegung nicht stattgefunden, aber auch nicht ohne die zwischenmenschliche Solidarität im klassischen Verständnis. Später wurde sie aufs Abstellgleis gestellt. Für ihr Fehlen im Denken über die Transformation der 1990-erjahre büßt man in den Ländern der ganzen Region bis heute.


Übersetzung aus dem Polnischen: Bernd Karwen (Polnisches Institut Berlin – Filiale Leipzig)

Dieser Artikel erschien im polnischen Original in der Zeitschrift „Wszystko Co Najważniejsze“ im Rahmen eines Projekts zum 40. Jubiläum der Gründung der Solidarność.

 
Foto: Streik in der Lenin-Werft © Zenon Mirota / Wikipedia / CC BY-SA 3.0 PL)


 

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