14.08.2020 PressPOLSKA

Die Schlacht bei Warschau im Jahr 1920

Artikel des polnischen Premierministers Mateusz Morawiecki

Der polnisch-bolschewistische Krieg war der Gründungsmoment des modernen Polens und möglicherweise ein unerkannter Wendepunkt für ganz Europa – der faktische Zusammenprall zweier unterschiedlicher Zivilisationen.

Es gibt historische Wendepunkte, die für den weiteren Verlauf der Geschichte ausschlaggebend sind. Ein solcher historischer Moment im 20. Jahrhundert für Polen und für Europa war der 15. August 1920. An jenem Tag ging der 1918 wiedererstandene polnische Staat als Sieger aus der entscheidenden Schlacht gegen die bolschewistischen Truppen hervor, die das Feuer der kommunistischen Revolution nach Westeuropa tragen sollte, das durch die menschlichen und materiellen Verluste infolge des Ersten Weltkriegs geschwächt war. Nach Meinung des britischen Diplomaten Edgar D´Abernon war die Schlacht bei Warschau die achtzehnte Entscheidungsschlacht der Weltgeschichte. Die Schlacht bei Warschau verdient es, gleichrangig mit der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als ein entscheidender Moment im Kampf gegen den Totalitarismus in Europa genannt zu werden. Der Eiserne Vorhang, mit dem Europa in Jalta geteilt wurde, ließ nicht zu, dass die Bedeutung dieses konkreten Ereignisses für die Geschichte Europas den gebührenden Rang im Weltgedächtnis erhalten hat. Dies gilt sowohl für die Alltagskultur als auch für Geschichtslehrbücher. Nun ist es an der Zeit, diese Lücke im europäischen Gedächtnis endlich zu füllen. Der Jahrestag der Schlacht bei Warschau soll nicht nur in Warschau, nicht nur in Polen, sondern auch in ganz Europa gefeiert werden. Vor den Toren Warschaus an der Weichsel siegte Polen, jener Sieg jedoch betraf in großem Maße die Freiheit der europäischen Nationen – der Freiheit von der totalitären Finsternis des Kommunismus.

Historisch gesehen endet im Jahre 1920 eine bestimmte Abfolge von Ereignissen, die Ende des 18. Jahrhunderts mit der Teilung Polens durch Preußen, Russland und Österreich begonnen hat. Die Schlacht bei Warschau ist der Höhepunkt einer der außergewöhnlichsten Episoden in der europäischen und der globalen Geschichte bei der Erschaffung einer modernen Nation – einer Nation, die ohne einen eigenen Staat auf den Trümmern der militärischen und politischen Niederlagen (stellvertretend dafür seien mehrere polnische Aufstände und Niederlagen etlicher Staatssurrogate genannt) geformt wurde. Und das geschah zu einer Zeit, als Polen von der Landkarte Europas gelöscht war – vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

Die erste polnische Besonderheit, an die wir erinnern sollten, ist das Ausmaß der Transformation der polnischen Gesellschaft von einer feudalen in eine der modernsten Bürgergesellschaften Europas – und das eigentlich ohne eigene staatliche Institutionen. Das riesige Netz sozialer, kultureller und sportlicher Vereine wie beispielsweise die Gesellschaft „Sokół“, Genossenschaftskassen, wissenschaftliche Gesellschaften und schulische Selbstbildungszirkel kann nur mit den Reformen im Japan der Meiji-Zeit verglichen werden, die dort von einem starken Machtzentrum durchgeführt wurden. Die große polnische demokratische Revolution von unten vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen die Politik der Teilungsmächte im besetzten Polen. Sie ist der Beweis dafür, dass die Polen in der Lage waren, Schlüsse aus der eigenen Geschichte zu ziehen und in den modernsten Konzepten – Positivismus, demokratische Reformen, Ermächtigung der Frauen und sozialer Massen –Zusammenhalt zu finden. Ohne den Erfolg an der aufklärerisch geprägten Front der Bildung, der Wissenschaft und des sozialen Gedankens hätte es keine Siege an den militärischen Fronten gegeben.

Diese außergewöhnliche Geschichte der ersten polnischen demokratischen Revolution ist in Europa kaum bekannt. Und doch handelt es sich dabei um eine Erzählung vom Rang solcher literarischen Meisterwerke wie Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“. Unmittelbar nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit beschloss Polen 1918 eines der modernsten Sozial- und Wahlgesetze der westlichen Welt. Das gemeinsame Bewusstsein der wiedergewonnenen Freiheit überwand Vorurteile und die Versuchung, breitere gesellschaftliche Gruppen zu diskriminieren. Polen musste die Einheit und den Zusammenhalt der ganzen Nation aufbauen. Auf die intellektuellen Leistungen am Ende des 19. Jahrhunderts mussten nach 1918 staatliche Anstrengungen zusammen mit der Wiederherstellung der öffentlichen Institutionen folgen.

Das Phänomen Polen ist somit ein Narrativ über eine Demokratisierung, die sich von der westeuropäischen unterscheidet. Es ist eine Geschichte der Demokratisierung, die von der fortschreitenden Zurückgewinnung der Unabhängigkeit und der gesellschaftlich-politischen Subjektivität begleitet wird. Es ist eine Geschichte der Fortschrittlichkeit, die als Gegenentwurf zum Imperialismus, Absolutismus und Despotismus der Mächte gestaltet wurde, die das Europa des 19. Jahrhunderts dominierten. Es ist eine Geschichte, an deren krönendem Abschluss der Staat eine äußerst anspruchsvollen Reifeprüfung bestehen musste – Polen sah sich kaum zwei Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit einer totalitären Bedrohung durch die Bolschewiki gegenüber.

Der Krieg gegen die Bolschewiki war eine Demonstration der außerordentlichen politischen Einheit der polnischen Nation. Im Juli 1920 wurde die Regierung der Nationalen Verteidigung mit Wincenty Witos, dem Anführer der Bauernbewegung, als Ministerpräsident, und Ignacy Daszyński, einem der Spitzenpolitiker der polnischen Linken, als Vizepremier bestellt. Die politischen Differenzen der Väter der polnischen Unabhängigkeit aus allen Lagern traten angesichts der Verteidigung der staatlichen Existenz des wiedergewonnenen Vaterlandes völlig in den Hintergrund. Die politischen Eliten Polens haben ihre Reifeprüfung im kritischsten Moment für das Land bestanden. Die polnische Gesellschaft unterstützte massiv die Kriegsanstrengungen, begleitet vom enormen Engagement der katholischen Kirche. Die bolschewistischen Truppen stellten sich einer Nation entgegen, die nicht die Absicht hatte, ihre so hart erkämpfte Unabhängigkeit aufzugeben.

Das zentrale Ereignis des polnisch-bolschewistischen Krieges schlechthin war die Schlacht von Warschau, ein kühner Gegenangriff auf die tief ins polnische Gebiet vorrückenden bolschewistischen Truppen, der von den Oberkommandierenden Marschall Józef Piłsudski, Generalstabschef Tadeusz Rozwadowski und Einsatzkommandeuren wie General Władysław Sikorski und Edward Śmigły-Rydz durchgeführt wurde.

Der bedeutende französische Militärhistoriker Hubert Camon hielt das Einkesselungsmanöver, das Polen den Sieg in der Schlacht von Warschau bescherte, für eine zeitgenössische Umsetzung des napoleonischen Manövers. Mit minimalen eigenen Verlusten wurde die mächtige bolschewistische Armee, die sich mit großem Schwung in Richtung Westeuropa bewegte, zerschlagen. Die Kriegsmobilisierung der polnischen Gesellschaft war außergewöhnlich, zumal Polen eines der Länder war, die durch den Ersten Weltkrieg am stärksten zerstört worden waren. Die Reaktion der polnischen Bevölkerung war einmalig, wofür das schwindelerregende Tempo der Aufstellung der Freiwilligenarmee unter dem Kommando von General Haller als Beweis dienen kann, die schnell auf eine Stärke von über 100.000 Soldaten anwuchs.

Die Presse nannte den polnischen Sieg das „Wunder an der Weichsel“, in Anlehnung an das „Wunder an der Marne“ im Ersten Weltkrieg, als die französisch-britische Truppen den Vormarsch der deutschen Armee stoppen konnten.

Der polnisch-bolschewistische Krieg war nicht nur ein Zusammenprall großer Armeen, eine spektakuläre Anstrengung der ganzen Gesellschaft und ein strategisches Meisterstück der Generäle. Es war auch ein Ringen der Geheimdienste, in dem Codes, Verstand und Intellekt gegeneinander eingesetzt wurden. Der große Held an der geheimdienstlichen Front der Warschauer Schlacht war der Offizier des polnischen Militärgeheimdienstes Jan Kowalewski, der die sowjetischen Codes entschlüsselte. Dank dieser Leistung konnten entscheidende Informationen für die Ausarbeitung der polnischen operativen Strategie gewonnen werden. Er war der stille Held, der eine wesentliche Rolle beim Aufhalten der sowjetischen Aggression gegen Europa im Jahr 1920 spielte. Darüber hinaus war er auch im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Person bei der Operation Tripod, die von der polnischen Exilregierung in London entworfen wurde. Der Plan sah eine Invasion der Alliierten auf dem Balkan vor, nachdem Italien, Rumänien und Ungarn zuvor zum Bruch der Allianz mit Hitler bewogen werden sollten. Unglücklicherweise verwarf Roosevelt unter dem Druck Stalins den von Winston Churchill unterstützten Plan einer Landung auf dem Balkan. Wäre die Geschichte anders verlaufen, hätte Jan Kowalewski Mittel- und Osteuropa zweimal vor der totalitären Welt der sowjetischen Dominanz retten können.

Der 100. Jahrestag der Schlacht bei Warschau ist einer der wichtigsten Gedenktage des gegenwärtigen freien Europas. Die Polen haben den Westen vor der Erfahrung des totalitären Genozids gerettet, von bedeutenden französischen Historikern im berühmten „Schwarzbuch des Kommunismus“ beschrieben. Die polnische Erfahrung des Kommunismus mit dessen tragischen und langanhaltenden Folgen für Polen und für die polnische Gesellschaft bleibt oft unverstanden. Die Hinterlassenschaft des Postkommunismus ist ein reales Problem, das die soziale und institutionelle Wirklichkeit derjenigen Länder, die einen demokratischen Wandel vollzogen haben, deformiert. Der herausragende polnische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Władysław Reymont hat nach der Schlacht bei Warschau ein Buch unter dem Titel „Die Empörung“ geschrieben. Darin beschrieb er allegorisch den Aufstand der Tiere gegen die Menschen und porträtierte damit die Mechanismen des Totalitarismus. Reymont schrieb das Werk zwanzig Jahre vor George Orwells berühmter „Farm der Tiere“. Er war in der Lage, dieses Buch zu schreiben, weil die Polen lange vor dem Westen eine Konfrontation mit dem Kommunismus erlebt hatten. Die Schlacht bei Warschau war auch der Höhepunkt von mehr als fünf Dekaden einer polnischen demokratischen Revolution von unten – eines der außergewöhnlichsten und unbekanntesten Narrative in der Geschichte Europas in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Es ist eine Erzählung von außerordentlichem Patriotismus, religiöser Hingabe, militärischem Genie und der Bedeutung von Chiffren.

Der polnisch-bolschewistische Krieg war der Gründungsmoment des modernen Polens und möglicherweise ein unerkannter Wendepunkt für ganz Europa – der faktische Zusammenprall zweier unterschiedlicher Zivilisationen. Niemand wusste das besser als der 1920 geborene Karol Wojtyła – der spätere Papst Johannes Paul II. – der sagte: „Seit meiner Geburt stehe ich tief in der Schuld derjenigen, die damals den Kampf gegen den Aggressor aufgenommen und den Sieg mit ihrem Leben bezahlt hatten.“ Wir sind alle zur Rückzahlung dieser Schuld verpflichtet. Der 100. Jahrestag der siegreichen Schlacht bei Warschau ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, um uns und ganz Europa daran zu erinnern.

 

Der Beitrag erscheint im polnischen Original in der polnischen Monatszeitschrift „Wszystko co najważniejsze“ im Rahmen eines gemeinsam mit dem Institut des Nationalen Gedenkens durchgeführten Projekts.

 


 

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