Was spricht dafür, dass in dem neuen Jahrzehnt das Schicksal der europäischen Integration und damit Europas in Mitteleuropa entschieden wird? Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat bereits 2017 verkündet, dass die Mitteleuropäer bisher geglaubt hätten, dass Europa ihre Zukunft sei. Nun würden sie sehen, dass sie die Zukunft Europas sind. Es waren Sätze wie diese, die tatsächlich einen Stimmungswandel in Europa andeuteten. Das neue Jahrzehnt beginnt in Europa mit den großen Herausforderungen einer Pandemie und einer immer deutlicheren Klimaerwärmung. Die Europäische Union hat dafür Strategien und Antworten entwickelt, die offensichtlich gemeinsam erfolgreicher umzusetzen sind als von jedem Staat allein. Aber wird Ähnliches in der Frage der Zuwanderung nach Europa gelingen? Der aufgeklärte Mainstream im Westen des Kontinents spricht von den Grundrechten für Flüchtlinge und immer mehr liberalen Individualrechten. Viktor Orban spricht von Familie, Nation und Christentum, wenn er von der Zukunft Europas spricht.
Mich interessieren aber heute an Mitteleuropa seine Traditionen der kulturellen Vielfalt, die Erfahrungen des ständig präsenten „sowohl als auch“, des individuell und gesellschaftlich erlernten Widerstandes, die Welt nur in schwarz und weiß einzuteilen. Nach den friedlichen Revolutionen von 1989/90, die Demokratie und Marktwirtschaft als vielzitiertes „Ende der Geschichte“ in Europa ermöglichten, wirkte ein Nachdenken über den Kulturraum „Mitteleuropa“ nur mehr nostalgisch, also überflüssig. Alles schien in Europa geschafft oder nur mehr eine Frage der Zeit. Der Osten war geschlagen und der Westen wurde imitiert. Wie sieht die Bilanz heute aus?
Das neue Jahrzehnt beginnt für Mitteleuropa nicht unter den besten Voraussetzungen. Seit drei Jahrzehnten ist die ideologische Teilung Europas überwunden und dennoch ist die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Machtverteilung in Europa wie auf einer schiefen Ebene vom Westen des Kontinents bestimmt. Zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Integration hat ein Mitgliedsstaat die Europäische Union verlassen und damit gleichzeitig die deutsch-französische Achse noch mehr zum Zentrum der europäischen Politik gemacht. Die mitteleuropäischen Staaten zwischen Deutschland und Russland gehören unterschiedlichen Allianzsystemen und Integrationsprojekten an, in denen sie jeweils mehr zur Peripherie als zum Zentrum zu gehören scheinen. Die geopolitische Stabilität wird im Kampf um politische Einflussbereiche in Mitteleuropa erworben, der von außerhalb der Region geführt wird. Dies macht zwar die mitteleuropäische Staatenwelt für Russland, China und die USA weiterhin interessant, aber eigene Gestaltungsräume (selbst innerhalb der EU) werden zunehmend geringer.
Und dennoch, oder gerade deshalb, wird die Zukunft Europas in den kommenden Jahren in Mitteleuropa entschieden. Es wird die wichtigste Aufgabe der Europäischen Union, die mit guten Gründen geopolitische Macht anstrebt, erfolgreich eine Reform zu starten, die geeignet ist, jene Ost-West- und Nord-Süd-Spaltungen zu überwinden, die bis heute die Politik in Mitteleuropa bestimmen. Lernen können wir für dieses Ziel mehr von den Freiheitssehnsüchten und Überzeugungen so unterschiedlicher Mitteleuropäer wie Adam Michnik und Johannes Paul II oder Václav Havel und Václav Klaus als von der aktuellen Auseinandersetzung um europäische Werte. Darf es in der EU zwischen den Mitgliedsstaaten unterschiedliche Vorstellungen über das Ausmaß staatlicher Souveränität geben und wie groß dürfen diese Unterschiede sein? Wie darf in EU-Staaten die Demokratie organisiert sein? Der Europäischen Union fehlt heute mehr denn je eine Verfassung!
Vielleicht kommt der Vorschlag überraschend. Aber wir Mitteleuropäer sollten eine Verfassungsdiskussion verlangen und auch selbst Vorschläge dafür vorlegen, die wir in die bereits beschlossene, aber immer noch nicht begonnene „Konferenz über die Zukunft der Europäischen Union“ einbringen. 2004 waren es die mitteleuropäischen Staaten Litauen, Ungarn und Slowenien, die die ersten waren, die den letztlich gescheiterten damaligen Verfassungsvertrag ratifiziert hatten. Mitteleuropa könnte damit heute entscheidend dazu beitragen, dass die EU eine eigenständige geopolitische Macht in der künftigen Weltordnung wird.
Die Auseinandersetzungen über die Zukunft Europas brauchen eine neue Grundlage der EU, die die Mitte Europas aus der Peripherie holt. Dies wird nicht durch eine Diskussion um eine weitere Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips gelingen. Wer dafür eintritt, ist ein Totengräber des europäischen Projektes. Nicht nur aus meiner Wiener Sicht braucht es jetzt, nach den mutigen Entscheidungen zur gemeinschaftlichen Schuldenaufnahme und zu voraussichtlich mehr direkten Steuermitteln für die EU-Kommission, konkrete Maßnahmen, die aus der Mitte Europas kommen und Europa zukunftsfähig machen. Soviel Optimismus muss sein: Alle Staaten des Westbalkans werden EU-Mitglieder, die östlichen Staaten des Kontinents erhalten das Angebot einer EU-Perspektive und die Russische Föderation wird zum vertrauenswürdigen geopolitischen Partner. Damit gäbe es tatsächlich eine Chance, dass das neue Jahrzehnt das beste für Mitteleuropa wird.
Emil Brix ist ein österreichischer Diplomat, Kulturpolitiker und Historiker.
Der Artikel entstand im Rahmen des Projekts „Opowiadamy Polskę światu“ (Wir erklären der Welt Polen).
Quelle: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen