We Are a Dream 🗺
06.09. / 19:00 / Vernissage in Anwesenheit der Künstlerin
07.09. / 11:00 / Führung durch die Ausstellung mit der Künstlerin und der Kuratorin (in englischer Sprache)
Der Titel der Einzelausstellung von Aleksandra Liput (geb. 1989) bezieht sich auf Ursula K. Le Guins Science-Fiction-Roman „Die Geißel des Himmels“ aus dem Jahr 1971 (Originaltitel „The Lathe of Heaven“, poln. „Jesteśmy snem“ = „Wir sind ein Traum“). Die Handlung spielt in einer gewalttätigen, düsteren, retrofuturistischen Stadt in einer dystopischen Welt, die in vielerlei Hinsicht der Realität ähnelt, in der wir in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts leben. Die Welt um den Protagonisten herum ist wie ein dunkler Traum. Alle Bewegungen der grauen Menschen werden durch technologische Überwachung aufgezeichnet und ihre Körper sind ständig der Wirkung diverser Medikamente ausgesetzt. Der Protagonist muss feststellen, dass selbst das Reich der Träume nicht mehr sicher und sorgenfrei ist und seine beunruhigenden Fantasien Realität werden. Also beschließt er, monatelang wach zu bleiben und sich dann von einem verdächtigen Arzt behandeln zu lassen. Er will seinen Schlaf zurückgewinnen, der für ihn einer der letzten Rückzugsorte der Rebellion und der individuellen Freiheit ist.
Jonathan Crary analysierte in seinem Buch „24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep“ den Prozess der schrittweisen Aneignung unserer Zeit einschließlich des Schlafs durch die kapitalistische Logik der Effizienz und Produktivität. Als Gegenpol zu dieser Logik schafft Liput einen immersiven Ausstellungsraum, in dem sie die Betrachter*innen dazu einlädt, in eine traumähnliche Realität einzutauchen. Für sie ist der Schlaf ein Raum des Verlernens, des Vergessens, des Kontrollverlusts, der Loslösung von der schwierigen politischen und sozialen Realität. Er ist ein Ort, an dem sich die Realität mit surrealen und unbewussten Elementen vermischt. Hier kann man für einen Moment die Zivilisation vergessen und zum Tier oder zum Kind werden. Der Traum ist ein sicherer und freier Raum, in dem verschiedene spekulative Visionen der Realität ausprobiert werden können. Er ist ein Ort der süßen Verdrängung und des Eskapismus, der eine geistige Regeneration ermöglicht.
Die Ausstellung zeigt eine Serie monochromer Zeichnungen auf Papier voller halbabstrakter Formen, die auf Portale, Traumfänger, verschwommene Masken und Nachbilder von Träumen verweisen. Sie entstanden in einem meditativen, langwierigen Prozess, in dem die Künstlerin es zuließ, automatisch zu agieren und ihrer Intuition zu folgen. Sie schichtete die Kompositionen übereinander, während sie gleichzeitig ein Buch von Ursula Le Guin hörte. Darüber hinaus präsentiert die Ausstellung eine expressive Installation aus Stoffen. Ein weiteres Schlüsselelement ist eine Installation, die Keramik mit gehäkelten Formen kombiniert. Ihre vertikalen Formen sind weitere Schichten einer traumähnlichen Realität und die einzelnen Keramikformen erinnern an Amulette oder – durch ihre scharfkantigen Formen – auch an Werkzeuge zur Verteidigung. Außerdem zeigt die Ausstellung archetypische, beunruhigende Darstellungen lächelnder Sonnen, die an Mythologien noch unentdeckter Kulturen gemahnen.
Aleksandra Liput nimmt in ihren Arbeiten häufig Bezug auf irrationale Motive – Träume, alte Glaubensvorstellungen, Magie, Psychedelik oder Verschwörungstheorien – und sucht in ihnen Antworten auf aktuelle Fragestellungen. Dabei kombiniert sie verschiedene Techniken und Materialien wie Stoffe, Keramik, Malerei oder Glasmalerei und wendet sich Themen zu, die mit der Natur, dem Urglauben, Archetypen und Science Fiction zu tun haben. Ihr Werk ist somit Teil der postsäkularen und post-aufklärerischen Wende in der Kunst, die versucht, die Realität „neu zu verzaubern“ und auf die nicht-rationalen Grundlagen unseres Denkens und der Welt hinzuweisen, die nicht allein mit wissenschaftlichen Kategorien erfasst werden können. Darüber hinaus interessiert sie sich für Fantasie und Spekulation als kritische Werkzeuge, mithilfe derer alternative Welten geschaffen werden können.
Über die Künstlerin:
Aleksandra Liput lebt und arbeitet in Warschau, wo sie 2017 an der Kunstakademie ihren Abschluss machte. Momentan ist sie an dieser Hochschule Doktorandin und Lehrbeauftragte. Als vielseitige Künstlerin nutzt sie Medien wie Keramik, Malerei und Installationen, um damit Angst, Traumata und Spiritualität zu thematisieren. Inspiriert von Fantasy-Literatur und Computerspielen untersucht sie Utopien und Dystopien. Gemeinsam mit Michalina Sablik gründete sie das Kuratoren-Duo „Dziady“ und stellte u. a. in den Galerien Labirynt (Lublin), Arsenał (Poznań) und Foksal (Warschau) aus. Ihre Bilder waren 2017 Teil der Ausstellung „Coming Out“ mit den besten Diplomarbeiten der Warschauer Kunsthochschule.
Text der Kuratorin:
Wir sind ein Traum. Eine Maschine zum Einschlafen, Vergessen und Verlernen. Wir schließen die Augen, damit die raubgierige Welt um uns herum zerläuft wie Milchschaum. Die schweren Köpfe vergessen allmählich grammatikalische Strukturen und Regeln des savoir vivre, des Verkehrs und des guten Anstands. Wir sind erschöpft von Rationalität, publizistischen Narrationen und der Entschlüsselung von Bedeutungen. Langsam hören wir auf, uns an unsere Namen und persönlichen Geschichten zu erinnern. Ihre Komplexität vermag es nicht, sich durch die Pforten des Traums zu zwängen. Wir drücken sie flach und stopfen sie in unsere Taschen, bis sie endgültig ihre Form verlieren. Sie laufen aus und hinterlassen nasse Pfützen. Wenn wir dieses Tor durchschritten haben, erkennen wir keine Gesichter mehr. Wir jonglieren mit den Bildern unserer Freunde und Verwandten. Sie haben keine Bedeutung mehr. Sie werden zu verschwommenen Figuren aus der Vergangenheit, zu abgegriffenen Visitenkarten und Zetteln aus Chipstüten.
Wenn wir das Reich der Träume betreten, sehen wir die Welt zum ersten Mal. Ohne Filter oder Worte, welche die Realität in Bedeutungsschubladen einsortiert. Wir können uns nur begrenzt artikulieren, wie Neugeborene. Wenn wir das Portal des Traums durchschreiten, verdrängen wir das, was im täglichen Leben Schmerz und Angst bedeutet. Eine süße Verdrängung. Sie bringt den geschundenen Nerven Linderung. Wir kehren zurück in den Schoß der nichtmenschlichen Mutter. Wir legen uns auf den weichen Bauch des Kätzchens. Wir massieren. Unsere Körper werden von Fell bewachsen und aus unseren Fingerspitzen sprießen die Spitzen scharfer Krallen. Sie sind es, die uns vor den Nachbildern der Realität schützen. Wir wollen uns in der Sonne wärmen und strecken. Nicht mehr Körper und Seele haben, nicht Körper und Geist. Wir sind ein Traum, ein vibrierendes Gefühl, Eindruck und Intuition.
Wir betreten die Dunkelheit. Wir berühren das Unbewusste, das sich Zeile für Zeile verdichtet, wie eine Zeichnung mit weichem Bleistift auf Papier. Überall um uns herum scheinen ununterbrochen Anblicke der realen und der irrealen Wirklichkeit auf. Formen fließen sanft ineinander. Angenehme Visionen werden von Schreien und Donnern aus einer beunruhigenden Realität jenseits des Traums durchbrochen. Wir haben keine Kontrolle darüber – wie über so viele andere Phänomene, von denen wir dachten, wir hätten sie. In uns bleibt nur, was ursprünglich und archetypisch ist. Wir können von neuem beginnen zu lernen. Aber nur in der Schule der dunklen Pädagogik – der des Vergessens und Loslassens. Als Gegenentwurf zur Logik des Kapitalismus, der Selbstoptimierung und des Wachstums.
Michalina Sablik
Kuratorin: Michalina Sablik
Koordination: Hannes Uhlenhaut
Grafik: Weronika Nowak
Veranstalter: Kunsthalle.Ost unterstützt vom Adam-Mickiewicz-Institut, dem Polnischen Institut Berlin – Filiale Leipzig, der Stadt Leipzig, der Stiftung Kunstfonds Bonn und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen
Vernissage auf Facebook / Veranstaltung auf Facebook
Info: instagram.com/kunsthalle.ost, facebook.com/p/KunsthalleOst-Leipzig-100064312500223
Eintritt: frei
Öffnungszeiten: Fr 16:00–18:00 & nach Vereinbarung
Ort: Kunsthalle.Ost, Riebeckstr. 19, 04317 Leipzig