Collagen von Wisława Szymborska 🗺
Viel brauchte es nicht: ein Rechteck matten Kartons, blau oder cremefarben, ordentlicher Klebstoff, eine Schere, Materialien zum Ausschneiden und – natürlich – Wisława Szymborska. Von den oben genannten Dingen war in der Volksrepublik Polen – und in dieser Zeit begann Wisława Szymborska ihr Collagenschaffen – das einzig sichere Element Szymborska selbst.
Fotokarton gab es nicht und wer konnte, brachte ihn aus dem Ausland mit. Der Klebstoff klebte in aller Regel nicht, daher musste sie eigene Methoden dafür entwickelt haben oder – auch das kam vor – die Collage löste sich mit der Zeit in ihre Einzelteile auf. Auch die Stumpfheit der Scheren konnte Szymborska überwinden – auf den Collagen ist nichts zu sehen von Kampf mit der Materie oder dem eigenen Körper.
Die auszuschneidenden Materialien fand Szymborska selbst: Schlagzeilen aus Zeitungen und Magazinen, Reproduktionen von Fotos oder alte Postkarten. Sie hat diese Materialien umgedeutet – weiterhin trugen sie ihre ursprünglichen Eigenschaften, waren erkennbar, aber aus dem Kontext geschnitten begannen sie unter ihrer Hand neue Welten zu bauen: leicht surreal, sprudelnd vor Humor und dem Gefühl von Freiheit. Das funktionierte auch deshalb, weil sie eigensinnig aus ihrem Ursprungsort befreit und in Szymborskas Welt eingeschrieben wurden, womit sie nicht mehr streng und hoffnungslos an Zeitung, Magazin, Foto, Postkarte gebunden, sondern aus den bisherigen Notwendigkeiten herausgenommen waren.
Szymborska schickte ihre Collagen an Freunde und ihr nahestehende Menschen, von denen sie so viele hatte, dass das sie Anfertigen von Collagen viele Stunden gekostet haben muss. Sie wusste, dass die Freunde gegen Ende Dezember besonders auf die Neujahrsgrüße warteten, und enttäuschte sie fast nie. Sie wusste auch um die besonderen Anlässe im Leben jedes ihrer Freunde, die sie mit ihren Collagen kommentierte. Sie unterschrieb mit ihren Initialen, ihrem Vor- und Nachnamen oder nur mit dem Vornamen – oder mit ihrem charakteristischen „W“ das eher an ein „V“ erinnerte, aber stets in gleichmäßigen, kleinen, aber leserlichen Buchstaben.
Collagen sind eine Kunstgattung, soviel ist klar. Doch sie sind zugleich die Signatur von Wisława Szymborska. Es lohnt sich auf ihren Sinn zu achten, und das ist das Wichtigste daran: Sie sind Freundschaftsbeweis und Freundschaftsanfrage.
[Text: Leonard Neuger, Redaktion & Übersetzung aus dem Polnischen: Bernd Karwen]
Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska (1923–2012) zählt zu den bedeutendsten Lyriker*innen ihrer Generation in Polen, wo ihre Gedichte zur Nationalliteratur gerechnet werden. Im deutschen Sprachraum wurde sie bereits früh durch die Übersetzungen von Karl Dedecius bekannt und erhielt mehrere bedeutende Auszeichnungen, u. a. 1991 den Goethepreis. 1996 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen. Ihr Werk ist international stark verbreitet und in mehr als 40 Sprachen übersetzt.
In ihren Gedichten hat Szymborska die Welt mit Ironie im lakonischen Ton betrachtet. Inhaltlich widmete sie sich philosophischen Fragen zur Menschheit, Entfremdung, Weltenlauf und Abseitigkeit, wodurch sie zum Weiterdenken anregt. Inspiration hierzu fand sie überall, auch in der Welt der Kunst.
Die Ausstellung mit Collagen von Wisława Szymborska wurde erstmals im Februar 2013 – anlässlich des ersten Todestages der Lyrikerin – im Krakauer Palais zu den Widdern (Pałac pod Baranami) gezeigt. Die Miniaturen lösten große Begeisterung aus und weckten das Interesse vieler internationaler Institutionen. Die Ausstellung wurde u. a. in Rom, Madrid, Nürnberg, Sofia, Budapest, Astana, Macau und auf Sardinien gezeigt.
Veranstalter: Polnisches Institut Berlin – Filiale Leipzig mit Unterstützung des Städtepartnerschaft Leipzig – Krakau e.V.
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Info: www.szymborska.org.pl/en
Eintritt: frei
Öffnungszeiten: Mo–Fr 10:00–16:00 Uhr und zu Veranstaltungen
Ort: Polnisches Institut, Markt 10, 04109 Leipzig
Abbildungen © The Wisława Szymborska Foundation