1.02.2021 PressPOLSKA

Wird die nächste Dekade des 21. Jahrhunderts die Dekade der CEEC?

Essay von Prof. Dr. Timo Baas

Für die mittel- und osteuropäischen Länder (CEEC) begann vor dreißig Jahren eine neue Zeit. Ein Reformprozess, der in Ungarn begann, führte über eine Reihe von sanften und mehrheitlich gewaltfreien Revolutionen zum Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Bündnisstrukturen.

Wirtschaftlich musste die Transformation von einem planwirtschaftlichen zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem gemeistert werden. Dies gelang, trotz schwieriger innen- und außenpolitischer Rahmenbedingungen, allen CEE-Ländern, die heute Mitglieder der Europäischen Union (EU) sind und auf die ich mich in diesem Artikel konzentrieren möchte. Laut Weltbank gehören die CEE-EU-Länder mehrheitlich der Ländergruppe mit hohem Einkommen an, während sie vor dreißig Jahren als Länder mit geringem bis mittlerem Einkommen klassifiziert wurden. Trotz dieses Erfolgs ist der Aufholprozess noch nicht abgeschlossen. Immer noch liegen die Pro-Kopf-Einkommen in den CEE-Ländern deutlich unter dem EU-Durchschnitt.

Ist also die Zeit gekommen, die Kluft zu überbrücken und zu den nach 1945 als westlich bezeichneten EU-Ländern aufzuschließen? Ich möchte diese Frage mit Blick auf Coronakrise, ausländische Direktinvestitionen, Bildungsstand der Bevölkerung und Migration betrachten und auf die Gefahr einer Mitteleinkommensfalle eingehen.

Grafik 1: BIP-Wachstum der CEE-EU-Länder

Quelle: Eurostat 2020

Die nächste Dekade wird alle EU-Länder vor erhebliche Herausforderungen stellen. So sind auch CEE-Länder stark vom Produktions- und Nachfrageeinbruch der Krise betroffen. Während das deutsche BIP prognostiziert um 5.6 Prozent zurückgeht, reduziert sich das BIP laut der Prognose der EU-Kommission in Slowenien (7.1), in der Slowakei (7.5), Ungarn (6.4) und Kroatien (9.6) deutlich stärker. Polen (3.6) und Litauen (2.2) bilden hier Ausnahmen. Insgesamt ist der Rückgang allerdings deutlich moderater als der Einbruch der Wirtschaftsleistung in Südeuropa. Spanien (12.4), Italien (9.9) Portugal (9.3) und Griechenland (9.4) sind alle wesentlich stärker von der Krise betroffen und erleben einen deutlichen Anstieg der bereits vor der Krise hohen Arbeitslosigkeit. In der nächsten Dekade ist deshalb zu erwarten, dass die 2004 der EU beigetretenen CEE-Länder die südeuropäischen EU-Länder beim Pro-Kopf-Einkommen überholen.

Für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung spricht zudem der anhaltend hohe Zufluss an ausländischen Nettodirektinvestitionen. Ausländische Direktinvestitionen sind so bedeutend, weil sie zu einem Transfer von Wissen beitragen und helfen, Produktionsprozesse zu optimieren. Dies führt mittel- und langfristig zu Wachstum und kann deshalb als Indikator einer positiven Wirtschaftsentwicklung gesehen werden.

Die CEE-Länder konnten in den letzten Jahren in unterschiedlichem Maß ausländische Direktinvestitionen attrahieren. Polen und Slowenien konnten den Zufluss an Direktinvestitionen erhöhen, während bei den baltischen Ländern eine Seitwärtsbewegung festzustellen ist und in Ungarn und Tschechien ein Rückgang.

Aber auch die Branche, in der Direktinvestitionen getätigt werden, ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit. In den letzten Jahren werden Direktinvestitionen verstärkt im verarbeitenden Gewerbe getätigt. Diese Entwicklung erstaunt etwas, da der Trend in den 1990er- und den beginnenden 2000er-Jahren in Richtung IT- und Finanzdienstleistungen verlief. Gründe hierfür sind vor allem in den Auswirkungen der Dotcom-Krise ab 2000 und der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 zu finden. Erstere hat die europäischen IT-Unternehmen schwer getroffen, zweitere hat das europäische Finanz- und Bankensystem destabilisiert.

Da sowohl der IT-Bereich als auch Finanzdienstleistungen als zukunftsträchtig gelten, könnten sich geringe Direktinvestitionen in diesen Sektoren darin äußern, dass der Aufholprozess zu den führenden Industrienationen zum Halten kommt. Dies wird durch die aktuelle Coronakrise weiter verstärkt, wenn die bislang recht liberale Einstellung der CEE-Länder zu Direktinvestitionen revidiert wird. Dies ist bereits in Ansätzen festzustellen, nachdem die EU-Kommission die europäischen Mitgliedsländer vor Übernahmen in strategischen Wirtschaftsbereichen gewarnt hat. So haben in den letzten Wochen und Monaten zahlreiche CEE-Länder wie Slowenien und die Slowakei ihre Richtlinien für ausländische Direktinvestitionen verschärft. Hier bleibt abzuwarten, ob diese Verschärfung die Attraktivität des Standorts – gerade aus Sicht von aufstrebenden Volkswirtschaften wie China – senkt.

Neben den Direktinvestitionen spielt das Humankapital einer Gesellschaft eine entscheidende Rolle im Wachstumsprozess. Hier haben die CEE-Länder Vorbildliches geleistet. So konnte der Anteil der Bevölkerung mit niedriger Bildung gerade bei den 2004 beigetretenen CEE-Ländern auf zwischen 10 und 16 Prozent gesenkt werden. Kroatien liegt bei 18 und Bulgarien und Rumänien bei 22 bzw. 25 Prozent und damit nahe dem EU-Durchschnitt, wohingegen die südeuropäischen Länder auf Werte bis zu 50 Prozent kommen. Im Gegenzug wurde die berufliche nichtakademische Bildung erheblich ausgebaut – nahezu zwei Drittel der Bevölkerung in Tschechien und in der Slowakei haben einen solchen Abschluss. Polen, Ungarn und die baltischen Länder folgen mit etwa 60 Prozent und übertreffen damit Länder wie Deutschland und Österreich mit traditionell starkem Berufsbildungssystem. Dies geht allerdings zulasten der Bildung im universitären Bereich. Hier befinden sich die CEE-Länder wie auch Deutschland im unteren Mittelfeld, allerdings ist die Streuung recht hoch. So ist Litauen nahe der Spitzengruppe (über 40 %) und Rumänien unter den Ländern mit dem niedrigsten Anteil an tertiärer Bildung (unter 20 %) zu finden.

Grafik 2: Bevölkerung nach Bildungsabschluss in %

Quelle: Eurostat 2020

Eng mit der Bildung der Bevölkerung ist die Zu- und Abwanderung von Fachkräften verbunden. Hierbei liegen Chancen und Risiken eng beieinander. CEE-Bürger mit beruflicher Ausbildung sind begehrte Arbeitnehmer in Ländern wie Deutschland und Österreich, junge CEE-Bürger mit sekundärem Bildungsabschluss finden auch aufgrund guter Sprachkenntnisse Beschäftigungs- und Bildungschancen in Großbritannien.

Wie sehr die CEE-Länder unter einem Verlust an klugen Köpfen (brain drain) leiden oder durch die Wanderungsbewegung profitieren, hängt von der Rückkehrbereitschaft ab. Hier machen Zahlen aus Deutschland Hoffnung. Ein Großteil der mobilen CEE-Bürger verbleibt nur bis zu fünf Jahren in Deutschland. Obwohl wir hierzu keine weitergehenden Zahlen haben, ist zu vermuten, dass viele in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Befragungen aus Polen weisen darauf hin, dass CEE-Bürger ihre Einkommen durch einen Auslandsaufenthalt steigern können. Dies lässt sich leicht durch geknüpfte Kontakte sowie spezifische Länder-, Produktions- und Sprachkenntnisse erklären. Hierdurch haben Rückkehrer begehrtes anwendungsorientiertes Wissen erworben, welches auf dem Arbeitsmarkt entsprechend entlohnt wird. Dies erhöht den Humankapitalbestand der CEE-Länder, fördert die europäische Zusammenarbeit und hilft, den Abstand im Pro-Kopf-Einkommen zu den einkommensstärksten EU-Ländern zu verringern.

Aus den dargelegten Argumenten kann aus meiner Sicht in den nächsten zehn Jahren davon ausgegangen werden, dass die CEE-Länder ihr Pro-Kopf-Einkommen deutlich steigern und die südeuropäischen Volkswirtschaften einholen werden. Ein hoher Bildungsgrad, eine niedrige Arbeitslosigkeit und der Zugang zum EU-Binnenmarkt senken zudem die Krisenanfälligkeit und machen die CEE-Mitgliedsländer der EU zu attraktiven Standorten für ausländische Direktinvestitionen.

Allerdings bereitet die Konzentration auf Branchen des verarbeitenden Gewerbes und die noch immer niedrige tertiäre Bildung sowie die Abwanderung von Fachkräften Sorgen. Hier sind noch erhebliche Anstrengungen notwendig, um mit den nordwestlichen EU-Ländern gleichzuziehen. Die Gefahr besteht, dass der Aufholprozess zum Erliegen kommt und die CEE-Länder einer Mitteleinkommensfalle nicht mehr entkommen. Dies ist insbesondere dann zu befürchten, wenn nur jene Teile der Wertschöpfungskette übernommen werden, die in den nordwesteuropäischen Ländern nicht mehr wirtschaftlich produziert werden können. Hier gilt es gegenzusteuern und in einen Wettbewerb um attraktive Zukunftsbranchen einzutreten, damit die nächste Dekade zur Dekade der CEE-Länder werden kann.

 

Prof. Dr. Timo Baas ist Professor für BWL-Industrie und Volkswirtschaftslehre an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart.

Der Artikel entstand im Rahmen des Projekts „Opowiadamy Polskę światu“ (Wir erklären der Welt Polen). Er erscheint zeitgleich in der Zeitschrift „Wszystko Co Najważniejsze“ im Rahmen der Serie „Dekada Europy Centralnej“ (Die Dekade Zentraleuropas).

 


 

Quelle: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen

 


 

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