Die Verfassung vom 3. Mai ging in die Geschichte ein als die zweite je geschriebene Verfassung nach der amerikanischen und als ein großer Akt der Freiheit jener Epoche – des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sie legte die politischen Prinzipien des Staates fest und erklärte gleichzeitig, dass „alle Kräfte der menschlichen Gesellschaft aus dem Willen des Volkes hervorgehen“. Sie proklamierte die Gleichberechtigung der Bürger, obwohl sie noch nicht alle Einwohner Polens zu Staatsbürgern machte. Sie war vorsichtig bei der Umgestaltung der Staatsstruktur – was im Zeitalter der Revolution, als man die Gleichberechtigung bald mit der Guillotine einführen wollte, als Vorteil angesehen wurde. Sie garantierte die bürgerlichen Freiheitsrechte: „Die persönliche Sicherheit und das gesamte Eigentum, wem auch immer es von Rechts wegen gehören mag, als den wahren Knoten der Gesellschaft und als Kern der bürgerlichen Freiheit, respektieren, sichern und etablieren wir, auf dass sie respektiert, gesichert und unversehrt für die Nachwelt erhalten werden, wünschen wir.“
Anders als die amerikanische Verfassung war sie jedoch kein Staatsgründungsakt, welcher der sich gerade formierenden Nation Grundrechte einräumte. Im Falle Polens war die Union von Lublin von 1569 ein solcher Gründungsakt. Er kann als erste polnische Verfassung angesehen werden, da er eine neue politische Einheit – die Republik – schuf und die Prinzipien ihrer Regierung festlegte. Aber auch sie subsumierte nur die Etappen des lange andauernden Vereinigungsprozesses des Königreichs Polen und des Großfürstentums Litauen.
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern entwickelte sich Polen nicht von einer Staatsmonarchie zu einer absoluten Monarchie, sondern zu einer Republik mit einem gemischten System, das sowohl eine Wahlmonarchie als auch eine Republik war, in der etwa 10 % der Bevölkerung das Recht hatten, den König und ihre Vertreter in den Sejm und die Sejm-Versammlungen zu wählen.
Die Vorstellung von Freiheit, die in diesem territorial ausgedehnten polnisch-litauischen Commonwealth, wie es genannt wurde, vorherrschte, ähnelte derjenigen, die Ideenhistoriker in italienischen Stadtrepubliken gefunden haben. Ihre Bürger verglichen sie gerne mit der antiken römischen Republik. In ihrem Verständnis war der Staat kein „Leviathan“ – ein über die politische Nation, über die Gesellschaft erhabenes Wesen – sondern ein „gemeinsames Ding“, das durch gemeinsames Handeln aufrechterhalten wurde, und Freiheit wurde nicht nur als die Freiheit des Einzelnen verstanden, sondern als die Fähigkeit, kollektiv über Gesetze zu entscheiden. In Polen gab es keine Inquisition, keine Verfolgung Andersdenkender – erst als Reaktion auf den verheerenden Einfall des protestantischen Schwedens 1655 begann man, die Toleranz zunehmend einzuschränken. Die Bürger der Republik Polen waren, das kann man ohne Übertreibung sagen, das freieste Volk in Europa. Und so sahen sie sich auch selbst. Aus ihrer Sicht waren absolute Monarchien keine freien Länder, sondern abschreckende Beispiele für Versklavung, in denen es keine Redefreiheit gab, in denen ein Adliger ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis geworfen werden konnte und in denen sich die Regierung in wirtschaftliche Fragen einmischte.
Für die intellektuellen Koryphäen des 18. Jahrhunderts in Europa wie Diderot oder Voltaire, Bewunderer aufgeklärter Despoten wie Katharina II. oder Friedrich II., war diese polnische Freiheit ein Exzess – etwas, das der Vernunft widersprach. Kant beklagte auch, dass Polen ein Land sei, in dem jeder ein Herr und niemand Untertan sein wolle. Gleichzeitig wurde den Polen vorgeworfen, dass diese Freiheit nur einen Stand betraf, nämlich den Adel.
Das polnische Experiment mit der Freiheit wurde tatsächlich immer riskanter und bedrohte das Überleben des Staates. Dieses System verlangte von seinen Bürgern viele Tugenden, damit die Freiheit nicht in Willkür und Anarchie umschlug. Die Verfassung vom 3. Mai war ein Versuch, die Kontrolle wiederzuerlangen und sollte den Staat gleichzeitig vor Invasion und innerem Zerfall schützen. Sie schränkte die Freiheit ein, um sie zu retten – sie führte eine Erbmonarchie ein, entzog dem besitzlosen Adel seine politischen Rechte und erweiterte die Rechte der Bürgerlichen.
Diejenigen, die sich dagegen aussprachen und Zarin Katharina II. zum Einschreiten aufforderten, beriefen sich auf „Kardinalrechte“ und alte Freiheiten. Aus Angst vor einer angeblichen inneren Despotie beriefen sie sich auf die größte Despotie Europas. Ausländische Armeen – preußische und russische – stellten eifrig „Ordnung“ sowie „Recht und Gesetz“ wieder her und zerstörten damit diesen einzigartigen Raum der Freiheit.
Hätte die Rzeczpospolita überlebt, wäre die europäische Geschichte anders verlaufen: Die Traditionen des klassischen Republikanismus wären nicht so leicht in Vergessenheit geraten, der russische Despotismus wäre jenseits der Grenzen geblieben und der preußische Militarismus wäre eingedämmt worden. Nach dem Verlust der Unabhängigkeit und der Erkenntnis, dass es ohne sie auch keine volle persönliche Freiheit geben kann, kämpften die Polen das ganze 19. Jahrhundert hindurch für sie, beginnend mit dem Kościuszko-Aufstand 1794. Diese polnische Verbundenheit mit der Freiheit manifestierte sich auch im 20. Jahrhundert – 1920 durch die Verhinderung des bolschewistischen Einmarschs in Europa, 1939 durch den Kampf gegen das Dritte Reich, 1980 mit der Gründung der „Solidarność“ und 1989 mit der Überwindung des Kommunismus.
Prof. Dr. habil Zdzisław Krasnodębski,
Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Soziologe & politischer Philosoph
Der Text wurde gleichzeitig in der polnischen Monatszeitschrift „Wszystko Co Najważniejsze“ im Rahmen eines Projekts unter Mitwirkung des Instituts für Nationales Gedenken und des Bergbaukonzerns KGHM veröffentlicht.
Quelle: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen
Übersetzung aus dem Polnischen: Bernd Karwen (Polnisches Institut Berlin – Filiale Leipzig)