30.04.2020 PressPOLSKA

Andrzej Duda zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz

anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers am 27. Januar 2020

Vor 75 Jahren, am 30. April 1945, wurde das Konzentrationslager Ravensbrück befreit. Da eine traditionelle Gedenkfeier in Zeiten von social distancing nicht möglich ist, veröffentlichen wir hier die Rede, die der polnische Staatspräsident Andrzej Duda anlässlich der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung des deutschen NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 2020 hielt, in deutscher Übersetzung.

Ehrwürdige Überlebende, Zeugen des Holocausts!
Exzellenzen, werte Ehrengäste, meine Damen und Herren!

„Gerade war ein Zug eingefahren. Aus den Güterwaggons stiegen Menschen und gingen in Richtung des Wäldchens. […] Als ich frühmorgens aufstand, um den Fußboden zu schrubben, gingen die Menschen […] Frauen, Männer und Kinder. […] Nachts ging ich bisweilen vor den Block – die Lampen strahlten über den Stacheldrahtzaun. Der Weg lag im Dunkeln, doch in der Ferne hörte ich deutlich das Gewirr vieler tausend Stimmen – die Menschen gingen und gingen. Über dem Wald erhob sich ein Feuerschein, der den Himmel erhellte, und mit dem Feuer erhob sich Menschengeschrei. […] Tag und Nacht gingen die Menschen. […] Ununterbrochen kamen Waggons an der Rampe an, und die Menschen gingen und gingen.“1

So beschrieb ein polnischer Häftling dieses Lagers im Sommer 1944 Auschwitz: der Schriftsteller Tadeusz Borowski. Menschenmassen, die zu Fuß gehen, geführt und in den massenhaften Tod getrieben werden. Wir in Polen kennen recht gut die Wahrheit über das, was hier passiert ist, denn sie wurde uns von unseren Landsleuten erzählt, denen Deutsche Lagernummern eintätowiert hatten.

75 Jahre sind seit dem Ende dieses monströsen, schrecklichen, verbrecherischen Albtraums vergangen, der sich fast fünf Jahre hier draußen abspielte. Seit diesem Tag sind drei Generationen vergangen, seit dem 27. Januar 1945, als mehrere tausend Gefangene – erschöpft von der Grausamkeit der Folterer, von Sklavenarbeit, Hunger und Krankheit – die Befreiung durch Soldaten der Roten Armee erlebten.

Unter uns sind heute die letzten Geretteten, welche die Hölle von Auschwitz überlebt haben. Die letzten derer, welche die Vernichtung mit eigenen Augen gesehen haben. Unter ihnen sind diejenigen, welche das Schicksal des jüdischen Volkes erfahren haben, über die der Psalm 44 sagt: „Ja, um deinetwillen töteten sie uns den ganzen Tag, wir galten als Schafe zum Schlachten bestimmt“.

Wir sind hier versammelt – Mitglieder von 61 Delegationen aus der ganzen Welt – um gemeinsam den Internationalen Holocaust-Gedenktag zu begehen. Wir stehen vor dem Tor des Lagers, in dem die meisten Opfer getötet wurden und das zu einem Symbol der Shoah wurde. Wir zollen allen sechs Millionen Juden unsere Hochachtung, die in diesem und anderen Lagern, Ghettos, Orten der Vernichtung ermordet wurden; auf den Straßen der Städte und Ortschaften.

Wir stehen hier vor Ihnen, verehrte Überlebende, um erneut vor den Zeugen des Holocausts eine Verpflichtung einzugehen – gegenüber denjenigen, die gestorben sind, gegenüber Ihnen, die überlebt haben, und gegenüber den kommenden Generationen.

Der Völkermord, der hier von den Funktionären des Dritten Reiches begangen wurde, verschlang über 1,3 Mio. Menschenleben. Unter ihnen waren Polen, Roma und sowjetische Kriegsgefangene, aber vor allem Juden, von denen hier über eine 1,1 Mio. getötet wurden.

Wir sprechen über Zahlen, aber es waren doch lebendige Menschen mit ihren Schicksalen und ihrem Leid. Wir sprechen über Zahlen, obwohl wir diese wahrscheinlich nie genau kennen werden. Wir reden über Zahlen, weil wir in einer Todesfabrik sind. Denn die Zahlen machen uns den industriellen Charakter des hier begangenen Verbrechens bewusst.

Der Holocaust, dessen Hauptort und Symbol Auschwitz ist, war ein einzigartiges Verbrechen in der gesamten Geschichte der Menschheit. Hass, Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus nahmen die Form eines massenhaften, organisierten, zielgerichteten Mordes an. Nirgendwo sonst und zu keiner Zeit sind Menschen auf ähnliche Weise ausgerottet worden.

Juden aus Polen, Ungarn, Frankreich, den Niederlanden, Griechenland und anderen besetzten Ländern in ganz Europa wurden in Viehwaggons hierher gebracht, selektiert und aller Besitztümer beraubt. In der überwiegenden Mehrheit wurden sie sofort in den Gaskammern getötet und in den Öfen der Krematorien verbrannt. All das dauerte nur Stunden, Viertelstunden, Minuten. Die Todesfabrik arbeitete jahrelang mit voller Leistung. Die Schornsteine rauchten, die Transporte rollten. Die Menschen gingen und gingen, Tausende. In den Tod.

Das alles ist schwer mit menschlichem Verstand zu fassen. Die Ungeheuerlichkeit des hier begangenen Verbrechens ist erschreckend. Aber wir dürfen nicht unsere Augen davon abwenden. Wir dürfen es nie vergessen.

Als sich die Front näherte, um dem Verbrechen ein Ende zu bereiten, versuchten die Täter, ihre Spuren zu verwischen. Sie zerstörten Gebäude und die Dokumentation des Völkermords. Nachdem sie Millionen von Menschen vernichtet hatten, wollten sie auch die Erinnerung an sie zerstören. Aber das ist nicht gelungen. Zeugen wurden gerettet, die letzten von ihnen sind Sie, verehrte Überlebende. Und dieser Ort ist erhalten geblieben – der materielle Beweis und zugleich Symbol des Holocausts.

Wir stehen also heute hier, auf dem Gelände des ehemaligen deutschen Lagers Auschwitz. Wir alle stehen zusammen und neigen unser Haupt vor dem Leid der Opfer dieses schrecklichsten Verbrechens der Geschichte. Und im Angesicht der Überlebenden, in Anwesenheit der letzten Zeugen, verpflichten wir uns für die Zukunft.

Im Namen der Republik Polen,

  • die als erste zum Ziel der Aggression von Nazideutschland wurde,
    deren Territorium sich unter Besatzung befand und deren Volk dem Terror ausgesetzt war,
  • welche die größte konspirative Widerstandsbewegung Europas gegen das Dritte Reich schuf,
  • deren Soldaten an allen Fronten des Zweiten Weltkriegs gegen die Deutschen kämpften, vom ersten bis zum letzten Tag,
  • wo sechs Millionen Bürger durch die Hände der deutschen Besatzer ermordet wurden, davon drei Millionen Juden,
  • die schließlich alle Anstrengungen unternimmt, um diesen Ort zu erhalten: das Gelände des Lagers Auschwitz und aller anderen Orte der Vernichtung – der ehemaligen deutschen Lager, die sich auf unserem Staatsgebiet befinden,

habe ich das Privileg und die Ehre, die Verpflichtung zu erneuern,

  • die wir, Polen, schon damals eingegangen sind, während der Holocaust geschah, als unsere Vorfahren ihr Leben riskierten, um den verfolgten Juden zu helfen,
  • da sie als erste die Wahrheit über die Vernichtung der Juden in die Welt trugen und Reaktionen der Staatsoberhäupter der Welt verlangten,
  • und dieser Verpflichtung bleiben wir Polen konsequent treu – auch mit Blick auf das Gedenken an unsere heldenhaften Landsleute wie Witold Pilecki und Jan Karski:

stets das Gedenken zu pflegen und die Wahrheit darüber zu hüten, was hier geschehen ist.

Ich möchte die hier versammelten sehr geehrten Gäste, die Vertreter anderer Staaten und Völker, aber auch Vertreter internationaler Institutionen sowie alle Menschen guten Willens auf der ganzen Welt dazu einladen, an diesem Werk mitzuwirken. Sei es unsere gemeinsame Verpflichtung, eingegangen vor den Augen der letzten Zeugen und Geretteten: dass wir die Botschaft und Warnung für die ganze Menschheit, die von diesem Ort ausgeht, weitertragen.

Die Fälschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, das Abstreiten der Verbrechen des Völkermords und die Leugnung des Holocaust sowie die Instrumentalisierung von Auschwitz – zu welchen Zielen auch immer – ist eine Schändung des Gedenkens an die Opfer, deren Asche hier verstreut ist. Die Wahrheit über den Holocaust darf nicht sterben. Das Gedenken an Auschwitz muss andauern, damit sich die Vernichtung niemals wiederholt.

Nochmals danke ich Ihnen, sehr geehrte Gerettete, für Ihr Zeugnis und ihre heutige Anwesenheit hier.

Ewiges Gedenken allen Opfern von Auschwitz! Ewiges Gedenken den Opfern des Holocaust!


Übersetzung: Bernd Karwen (Polnisches Institut Berlin – Filiale Leipzig)


1 Deutsche Fassung zitiert nach: Borowski, Tadeusz: Bei uns in Auschwitz, übersetzt von Friedrich Griese, Frankfurt/Main 2006, S. 74–88.

 


 

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